Die Seelenzauberin - 2
Erde mit einem riesigen Messer aufgeschnitten worden. Wahrscheinlich gab es bei den Einheimischen Mythen, in denen die alten Götter genau das getan hatten. Der Boden des schmalen Tals war flach und felsig, durch die Mitte zog sich ein Kiesbett, in dem einst ein größerer Bach geflossen war; momentan war nur noch ein dünnes Rinnsal zu sehen, und zu beiden Seiten standen Pfützen und Tümpel, die von den letzten Regenfällen übrig geblieben waren. Nichts wies darauf hin, dass sich auf dem Talgrund Menschen bewegt hatten, aber das hatte nicht viel zu bedeuten; wer so schlau war, hier einen Hinterhalt zu legen, würde auch keine sichtbaren Spuren zurücklassen.
Mit erwartungsvoll klopfendem Herzen ließ sie sich von einem warmen Wind nach oben über die Ostwand des Tales tragen und erforschte das Gelände dahinter. Sie glaubte, im Gestrüpp einen schmalen Pfad zu erkennen, konnte aber nicht sagen, ob er von Menschen oder von Tieren ausgetreten worden war. Letzteres war jedoch unwahrscheinlich. Die meisten größeren Tiere hatten dieses Gebiet schon vor langer Zeit verlassen, und geblieben waren nur so wenige, dass ihre Fährte kaum so deutlich ausgefallen wäre. Also Menschen.
Sie folgte dem Pfad nicht direkt, sondern flog kreuz und quer darüber hinweg, wie es – hoffentlich – ein gewöhnlicher Habicht auf der Suche nach Beute getan hätte. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich da unten jemand fragte, wieso er von einem Raubvogel verfolgt wurde.
Und da waren sie auch schon. Zuerst bemerkte sie die Helme, die unter den schräg einfallenden Sonnenstrahlen aufblitzten. Soldaten – mindestens ein halbes Dutzend auf ihrer Seite des Tales – und nachdem sie wusste, wonach sie zu suchen hatte, entdeckte sie auch auf der anderen Seite mehrere Lichtreflexe. Alle Krieger hatten sich ganz bewusst so aufgestellt, dass sie vom Tal aus für niemanden zu sehen waren.
Sehr bedenklich.
Der Abschnitt, den sie bewachten, war so schmal, und die Wände waren so steil, dass kein Pferd ohne Weiteres hinausklettern konnte. Weiter vorne versperrte hinter einer leichten Biegung eine Barriere den Weg, und jenseits davon führte ein gut begehbarer Pfad vom westlichen Rand nach unten. Und sie erinnerte sich, dass sie etwa eine halbe Meile zuvor auf einer Seite eine flachere Stelle passiert hatte, von der bewaffnete Männer – vielleicht an Seilen – hinabklettern konnten.
Noch bedenklicher.
Genug gesehen! Sie wendete hoch über den Köpfen der wartenden Soldaten und flog nach Süden zurück. Sie wusste jetzt genau, was sie zu tun hatte. Wenn sie die Heiligen Hüter retten wollte, weil sie eigene Pläne mit ihnen hatte, musste sie verhindern, dass sie in diese Falle liefen. Und da die Macht des Heiligen Zorns ihre Zauberkräfte störte, blieb ihr nur eine Wahl.
Sie kehrte an die Stelle zurück, wo sie zuerst in das Tal eingeflogen war und wo die Hüter nach ihren Berechnungen noch vor dem Abend vorbeikommen würden. Dort suchte sie sich ein dichtes Gestrüpp, wo sie sich ungesehen in ihre menschliche Gestalt zurückverwandeln konnte, und versteckte sich, für den Fall, dass Kundschafter unterwegs waren, tief im Inneren. Nach dem langen Flug taten ihr die Flügel weh, aber die Freiheit, die sie ihnen verdankte, würde sie noch schmerzlicher vermissen. Von hier spürte sie deutlich die unheilvolle Macht des Heiligen Zorns, sie strömte wie ein Sturzbach durch das lange Tal und schoss weiß schäumend nach Süden. Die Verwandlung in ein Tier war schon unter besten Bedingungen schwierig und voller Gefahren, unter diesen Umständen war daran nicht zu denken. Von nun an musste sie sich allen Herausforderungen, die noch auf sie warteten, in menschlicher Gestalt stellen.
Mit einem tiefen Atemzug suchte sie ihr rasendes Herz zu beruhigen. Auch die Rückkehr in ihren eigenen Körper wäre hier nicht ohne Risiko, sollte aber immer noch möglich sein. Lebendes Fleisch hatte eine tief verwurzelte Bindung an seine natürliche Gestalt und strebte stets in diese Form zurück, wenn es nicht durch Zauberei daran gehindert wurde. Sie brauchte nur den Zauber wieder aufzuheben, der ihr Federn und Schwingen verliehen hatte, dann käme alles Übrige ganz von selbst.
Ruhig. Ganz ruhig. Wende dich nach innen, suche nach der Macht im Kern deiner Seele. Gestohlene Macht, kostbare Macht. Fasse sie, beschwöre sie, löse damit die Bande, die dein Fleisch in eine fremde Form zwingen. Erspüre, wie Knochen und Sehnen reagieren. Wie sie sich umbilden.
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