Die Seelenzauberin - 2
rief er und drehte ihn so, dass man auch hoch oben das Siegel noch sehen konnte. Jeder Bewohner der Protektorate musste dieses Zeichen respektieren! Selbst die Wegelagerer in dieser Region machten um die Hüter einen weiten Bogen, weil sie entweder ihren Auftrag anerkannten oder auch nur Vergeltung durch eine Kaste von Kriegern fürchteten, die als Günstlinge der Götter galten.
Aber diese Männer hatten vor nichts Respekt.
Namanti stieß einen trotzigen Schrei aus, stellte ihr Pferd mit dem Kopf zur Talwand und trieb es in Galopp. Zuerst dachte Rhys, sie wollte es – an der Spitze, wo die Äste am kürzesten waren – über den Baum treiben, in der Hoffnung, es würde weit genug springen, um beim Aufkommen nicht aufgespießt zu werden. Doch dann sah er, dass sie nicht auf den Baum zuhielt, sondern auf die Talwand. Es gab eine Stelle, wo der Hang nicht ganz so steil war wie überall sonst, und genau die steuerte sie an! Atemlos verfolgte er, wie das schwere Tier die Wand ansprang, wie es der Schwung ein Stück weit den steilen Hang hinauftrug und wie es mit den mächtigen Hufen auf dem felsigen Boden Halt suchte. Was ihm an Geschicklichkeit fehlte, machte es mit schierer Kraft wieder wett. Schritt für Schritt kämpfte es sich die unmögliche Steigung hinauf. Pfeile fuhren ihm in Hals und Schulter, sein Fell war blutüberströmt, doch es gab nicht auf und arbeitete sich Zoll für Zoll schräg nach oben. Bald würde es über dem Baumwipfel sein und könnte auf der anderen Seite wieder absteigen.
Sie schafft es tatsächlich , dachte Rhys beeindruckt. Und schickte sich an, ihrem Beispiel zu folgen.
Doch dann traten die mächtigen Hufe ins Leere; Erdklumpen spritzten nach allen Seiten, das Pferd suchte verzweifelt nach Halt. Namanti setzte sich nach hinten, um ihm zu helfen, sein Gleichgewicht wiederzufinden, aber nun hatte es den Schwung verloren, und die Schwerkraft zerrte immer heftiger an ihm.
Und die Schwerkraft erwies sich als stärker.
Sie fielen nicht tief, aber der Sturz war von gnadenloser Härte. Namanti wurde aus dem Sattel geschleudert, als das Pferd sich aufzurichten suchte, und von einem der wild schlagenden Hufe getroffen. Sie landete ungebremst zwischen den spitzen Ästen, und Rhys hörte, wie ein Knochen brach. Gleich darauf stürzte das Pferd auf sie. Entsetzt vernahm Rhys, wie mit dumpfem Schlag fast eine Tonne Pferdefleisch auf den Boden … und auf seine Gefährtin niederkrachte. Ein Arm, an zwei Stellen gebrochen, ragte unter dem Leib des Tieres hervor. Der Kopf hing nach einer Seite, und der Hals stand in einer Weise schief, die das Schlimmste befürchten ließ.
Mit einem Aufschrei der Verzweiflung riss Rhys sein Pferd herum und sprengte wie toll nach Süden. Sollte doch ein Hinterhalt auf ihn warten, notfalls würde er einfach alles niederreiten. Abgrundtiefe Trauer erfüllte sein Herz, eine wilde Entschlossenheit, dieser Falle zu entkommen und dafür zu sorgen, dass Namantis Mörder für die Tat mit ihrem Leben bezahlten. Wenn er dazu einem Pfeilhagel trotzen musste – nun gut. Hatte er denn eine andere Wahl?
Dann trug ihn sein Pferd um eine Biegung, und er sah, was dort auf ihn wartete. Verzweifelt riss er an den Zügeln, um noch rechtzeitig anzuhalten. Das Tier schlitterte über den nassen Kies.
Er sah sich einer Reihe von Männern gegenüber, die alle die gleichen Helme und Harnische trugen, und davor war eine Reihe von Pfählen, jeder so dick wie sein Arm, schräg in den Boden gerammt, sodass die tödlichen Spitzen auf ihn gerichtet waren; jedes Pferd, das auf diese Hürde zusprengte, würde sich – und seinen Reiter – gnadenlos aufspießen.
Hier werde ich sterben , dachte er trostlos. Er zog sein Schwert aus dem Sattelgehänge, aber das war nur eine leere Drohung. Er käme an keinen der Angreifer so nahe heran, dass er es einsetzen könnte, ohne sich selbst dabei umzubringen. Und plötzlich verlangsamte die Welt ihren Lauf. Der seltsame Nebel, der noch vor dem Baum über seinem Geist gelegen hatte, war wie weggeblasen; auf einmal war sein Denken von kristallener Klarheit.
Als eine der besonderen Gaben der Lyr galt die Fähigkeit, ihr Bewusstsein zu vereinigen. Ein Lyr , der im Dienst der Götter sein Leben ließ, konnte seinen Brüdern für den großen Kampf die Erinnerungen an seinen Tod hinterlassen. Wenn das stimmte, dann sollte es seine letzte Tat sein. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Angreifer und prägte sich jede Einzelheit ihres Erscheinungsbildes – ihre
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