Die Seelenzauberin - 2
so leuchtende Seelen; bei einem Tier hatte sie so etwas noch nie gespürt.
Das Weibchen schob langsam den Kopf nach vorne, bis Siderea seinen heißen Atem im Gesicht spürte. Sie erzitterte, hielt aber stand. Seine Zähne waren spitz und nach hinten gebogen wie bei einer Schlange; in den Facettenaugen spiegelte sich Sidereas schweißnasses Gesicht wie in tausend Spiegelscherben. Sie spürte eine unerwartet tiefe Verbundenheit zu diesem Geschöpf. Beide waren sie von Geiern umringt. Beide wurden sie getrieben von Hass, Angst und Verzweiflung. Sie waren Schwestern über die Grenzen der Art hinweg.
Mühsam raffte Siderea sich auf. In ihrem Arm tobte der Schmerz, und sie spürte, wie ihr das Blut über die Finger lief, aber sie stemmte sich hoch und schaffte es, wieder auf die Beine zu kommen. Dann holte sie tief Atem, nahm allen Mut zusammen und machte ein paar vorsichtige Schritte auf den Seelenfresser zu. Die glänzenden Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen, aber das Wesen machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Nicht einmal, als sie so nahe kam, dass sie es berühren konnte.
Siderea zögerte kurz, dann legte sie dem Weibchen eine Hand auf den dicken Hals. Sie spürte seinen Herzschlag unter ihren Fingern, ein fremder Rhythmus, aber ein vertrautes Gefühl. Dies war kein übernatürliches Ungeheuer, kein Dämon, sondern ein Tier aus Fleisch und Blut, es konnte verletzt werden und leiden – und es konnte so glühend hassen wie ein Mensch. Sein Hass drang durch ihre Fingerspitzen, warme, lebendige Energie, die über die bläuliche Haut waberte. Wie stark musste dieser Hass sein, dass sie ihn trotz ihres geschwächten Zustands spüren konnte. Normalerweise hätte sie dazu ihre Hexenkünste einsetzen müssen.
Ihr könnt uns einsperren , dachte sie, an die Geier da oben gerichtet, aber besitzen könnt ihr uns nicht. Ihr könnt uns foltern, aber ihr könnt uns nicht beherrschen. Und wenn ihr uns mit eurer Arroganz hier sterben lasst – sie sah dem Seelenfresser-Weibchen fest in die Augen und hatte eine jähe Eingebung –, dann verliert ihr etwas, das euch sehr viel bedeutet.
Das Wissen verlieh ihr Kraft.
Sie wandte sich wieder der Steinlawine zu. Nun hatte sie keine Bedenken mehr, dem Ungeheuer den Rücken zuzuwenden. Sie wusste, es würde ihr nichts zuleide tun. Von oben hatte der Geröllhaufen weniger steil ausgesehen. Das war nicht zu ändern. Sie schickte ein Stoßgebet an den Gott der Verzweiflungstaten und machte sich an den Aufstieg. Langsam – unter Qualen –, nur mit einer Hand Halt suchend, wo immer das möglich war, mühte sie sich den tückischen Hang hinauf. Einmal stürzte sie doch und landete hart auf der verletzten Schulter; als der Schmerz sie durchraste, hörte sie den Seelenfresser hinter sich aufschreien. Es ist nichts passiert , versicherte sie ihr stumm. Und dann: Alles wird gut.
Als sie sich dem Ende der Lawine näherte, sah sie, dass Amalik ihr bis zum Rand der Schlucht entgegengekommen war. Doch nach allem, was er dem Seelenfresser-Weibchen angetan hatte, war ihr sein Anblick unerträglich. »Verschwindet von hier!«, flüsterte sie heiser, als sie sich über die Kante zog, und stand auf. Ihre Stimme klang rau, kaum noch menschlich, sie hörte es selbst. »Und nehmt alle anderen mit!«
Er setzte zum Sprechen an. Wollte er ihr etwa Befehle erteilen? Antworten fordern? Schon der Gedanke fachte ihren Zorn zur Weißglut an. » Ihr werdet alle von hier abziehen «, gebot sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. » SOFORT ! «
Darauf war Amalik eindeutig nicht gefasst. Unsicher und Rat suchend schaute er zu seinen Begleitern empor. Siderea knurrte tief in der Kehle. Er hatte doch einen Tiger gesucht? Nun gut, er hatte ihn bekommen. Nun sollte er sie auch entsprechend behandeln, sonst konnten ihm und den Seinen nur noch die Götter helfen.
Endlich trat Amalik zögernd ein paar Schritte vom Rand der Schlucht zurück. Ihr leises Zischen machte ihm klar, dass es nicht weit genug war. Vor einer Stunde hätte er noch mit ihr debattiert oder sich womöglich gar erdreistet, sie herumzukommandieren. Jetzt … jetzt war das Verhältnis ein anderes. Er wollte etwas von ihr – und sie konnte es ihm immer noch verweigern –, und seit Siderea das begriffen hatte, blieb ihm kein Trumpf mehr, den er hätte ausspielen können. Er war nicht mehr Herr in seinem Haus, sondern Bittsteller in dem ihren.
Und so sollte es sein.
Er gab den Männern und den Ungeheuern, die sich außerhalb ihres
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