Die Seherin der Kelten
Zuschauer nahmen erneut ihre Plätze ein. Ein Hornsignal gebot Stille. Der Gouverneur erhob sich und trat in die Mitte des frisch geharkten Sandes und war damit selbst von den obersten Reihen aus ebenso gut zu erkennen wie jemand, der direkt auf der Bühne stand. Den Umhang hatte er abgelegt und auf seinem Platz liegen gelassen, als er sich erhob, so dass seine Rüstung nun die ganze Kraft der Nachmittagssonne in sich aufnahm und sein Gesicht in einem silbrig goldenen Schimmer erstrahlen ließ. Hätte das Gleiche ein Träumer getan, so hätte er gewusst, wie er den machtvollen Eindruck dieses Augenblicks dazu hätte nutzen können, die Menschen wieder ein wenig näher an die Götter heranzuführen. Der Gouverneur von Britannien aber - denn er war ein Römer - blinzelte nur einmal kurz und hielt den Kopf ein wenig anders, um nicht von dem grellen Lichtschein geblendet zu werden.
»Krieger der Trinovanter, der Eceni, der Atrebater, der Belger...«
Die Menge schnappte geschlossen nach Luft. Er sprach nicht auf Latein, das war die erste Überraschung. In weniger als einem Jahr hatte er eine recht verständliche Form jenes trinovantischen Dialekts erlernt, die im gesamten Südosten geläufig war. Darüber hinaus aber hatte er sie auch noch Krieger genannt, und das versetzte ihnen einen noch um einiges größeren Schock.
Sein Lächeln galt jedem Einzelnen von ihnen. »Heute haben wir gesehen, dass die römische Rechtsprechung unparteiisch ist, dass sie der uns nahe gebrachte, gerechte Arm des weit entfernten Kaisers ist. Sie beschützt die Schwachen und gebietet den übermäßig Starken Einhalt, erlaubt allen, gleichberechtigt zu gedeihen, ohne Angst vor Tod oder Ungerechtigkeit.
Und dennoch, damit diese Gerechtigkeit Bestand hat, müssen die Gesetze des Kaisers auf das Gewissenhafteste eingehalten werden. Wir dürfen nachsichtig sein, wenn es darum geht, dass jedes Volk in Frieden seine alten Riten und Zeremonien zelebriert. Unsere Götter hadern nicht mit euren Göttern; sie alle leben in gegenseitigem Respekt im Himmel. Und unsere Gesetze stehen auch keineswegs im Widerspruch zu euren Gesetzen, ausgenommen jener Fall, wenn das eine sich über das andere hinwegsetzt.«
Er verkündete dies alles ganz gleichmütig, so dass nur ein wahrlich übel meinender Mensch es als eine Beleidigung auffassen konnte: Ihr gehört uns; unsere Gesetze haben Vorrang vor euren Gesetzen, und die gesamte Welt wird dadurch zu einem besseren Ort.
Breaca versuchte, die Stimme ihres Verstandes zum Schweigen zu bringen, damit ihre Miene sie nicht verriet. Sie spürte, wie Graine von ihren Knien glitt.
Der Gouverneur jedoch beachtete die Bewegung des Kindes gar nicht. Sein Blick glitt vielmehr über jene hinweg, deren Leben sich in letzter Zeit auf so einschneidende Weise verändert hatte und die darüber noch immer verstimmt waren: die Männer der Trinovanter, die man dazu aufgefordert hatte, den Tempel zu Ehren von Kaiser Claudius zu finanzieren, und die darüber hinaus gelegentlich auch noch dazu herangezogen wurden, bei seiner Erbauung behilflich zu sein; die Krieger der Cantiaci und der Coritani und der Catuvellauner, die einst gegen die Legionen gekämpft hatten und die womöglich erneut zu den Waffen greifen würden, gäbe man ihnen nur einen hinreichend guten Grund dafür; die Eceni, die schon einmal rebelliert hatten und die dies womöglich wieder tun würden.
In der Hauptsache an sie gewandt fuhr er also fort: »Ein solcher Fall ist gegeben, wenn jemand dabei angetroffen wird, wie er in schamloser Weise das grundlegendste unserer Gesetze verhöhnt - Gesetze, die zum Schutze aller geschaffen wurden. In einem solchen Fall müssen wir mit Eile handeln und ohne Kompromiss, ganz genauso, wie wir auch im Falle des ehemaligen Zenturio Marcellus verfahren sind.«
Ein Signal ertönte. Die Trommeln kündigten die Ankunft eines weiteren Gefangenen an. Auf der Bühne wurde eine Tür geöffnet. »Genau solch ein Verbrecher wurde nun gefunden. Er wurde festgenommen, weil er im Besitz einer Waffe war, die aufgrund ihrer Länge und Größe dem Gesetz nach nicht mehr gestattet ist. Als er daraufhin zur Rede gestellt wurde, griff er unsere Männer an. Zwei von ihnen tötete er, und einen dritten verletzte er so schwer, dass dieser niemals wieder wird kämpfen können. Sowohl ein Mord als auch die Verstümmelung eines anderen Menschen haben jeweils für sich genommen bereits zwingend die Todesstrafe zur Folge. Kommen allerdings beide zusammen, so
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