Die Seherin der Kelten
muss der Täter der härtesten aller Strafen entgegenblicken.«
Die zeitliche Bemessung seiner Rede war perfekt, er musste den Ablauf zuvor eingeübt haben. Seine letzten Worte erreichten die obersten Sitzreihen in genau jenem Moment, als die dort Sitzenden den ersten Blick auf jenen Stammesangehörigen erhaschen konnten, der sich über das römische Gesetz hinweggesetzt hatte und dabei ertappt worden war. Der Gefangene vermochte nicht mehr ohne fremde Hilfe zu gehen. Zwei neue Offiziere der Leibwache - diese beiden älter und erfahrener als jene, die ihnen vorausgegangen waren - zerrten den Gefangenen grob durch die mit dem Faun bemalte Tür auf die Bühne und hielten ihn dort aufrecht, nackt und blutüberströmt, so dass er von den gegenüberliegenden Sitzreihen aus klar zu erkennen war. Unter dem ersten Eindruck des Entsetzens, den sein Anblick auslöste, konnte man zunächst nur sagen, dass er sich offenbar der Festnahme widersetzt haben musste oder grundlos geschlagen worden war, oder beides.
Einer der Offiziere packte den Gefangenen am Schopf und zwang ihn mit einem Ruck, den Kopf zu heben. Jetzt konnte man erkennen, dass auch seine Nase gebrochen war, dass ein Auge angeschwollen war zu einer breiigen, rot-violetten Masse, dass über die gesamte Länge seines einen Unterarms ein Schwerthieb verlief und dass von der einen Hand in einem schmerzhaft anzusehenden Winkel ein gebrochener Finger abstand. Die Art, wie er den linken Arm an die Seite presste, legte die Vermutung nahe, dass sich darunter eine zweite Wunde verbarg oder dass er innere Blutungen hatte. Sein Atem ging nur noch stoßweise, und nichts an ihm deutete darauf hin, dass er überhaupt wusste, wo er sich befand.
Dies waren die ersten Dinge, die Breaca registrierte; die mit der Schnelligkeit eines Wimpernschlags erfolgende Einschätzung eines sich auf dem Schlachtfeld befindlichen Kriegers, der zu erkennen versuchte, ob der Verletzte noch kämpfen konnte. Dieser hier jedenfalls würde ohne rasche medizinische Versorgung nicht mehr kämpfen. Rom hingegen verschwendete die Zeit seiner Feldärzte nicht an ohnehin bereits verurteilte Gefangene. Das einzig Tröstliche, was man jetzt noch feststellen konnte, war, dass der Tod des Gefangenen spätestens bei Sonnenuntergang eintreten würde; selbst wenn man ihn zuvor noch an ein Stück Holz nagelte.
Ein kleiner, stimmloser Teil von Breaca feierte die beiden Morde, die der Gefangene verübt hatte, und suchte zugleich nach einem Träumer, der, ebenfalls schweigend, damit beginnen konnte, jenes Abschiedslied der Seele anzustimmen, das den im Kampf Gefallenen galt. Doch Graine war die einzige ihrer Träumerinnen, die zurzeit anwesend war, und gerade jetzt saß sie weder auf Breacas Schoß noch neben ihr auf der Bank.
Breaca riss ihren Blick von der Bühne los, suchte nach ihrer Tochter und fand sie schließlich auf Cunomars Knien sitzend, die kleinen Finger mit Ingrimm um seine Handgelenke geklammert, ihr Gesicht dicht an dem seinen, während sie leise, doch eindringlich und in einem steten Strom von Beschwörungen auf ihn einsprach. Für einen Fremden, vielleicht sogar für ihren Stiefvater, sah dies ganz nach einer Fortsetzung der geflüsterten Geheimnisse von vorhin aus. Breaca hingegen erkannte mit Entsetzen, dass Graine das Einzige war, was Cunomar noch davon abhielt, einen Mordversuch zu unternehmen und damit einem Schicksal ins Auge zu blicken, das eins war mit jenem, das den auf der Bühne stehenden Jugendlichen erwartete - denn es war ein Jugendlicher und kein erwachsener Mann, und tatsächlich war es sogar ein Jugendlicher mit kurzem drahtigem Haar, das ganz klebrig war von seinem eigenen Blut oder vielleicht auch dem anderer; mit brauner Haut, die in der Sonne nur allzu rasch noch dunkler wurde; mit einer dünnen Narbe auf seinem linken Arm, die vom Ellenbogen bis zum Handgelenk hinab verlief, genau dort, wo Cunomar durch Glück einen Schwertstreich hatte landen können, ehe sein Seelenfreund ausreichend Übung darin erlangt hatte, sich zu verteidigen.
» Eneit!«
Unbeabsichtigt brach dieser Name förmlich aus Breaca hervor. Steifnackig und unter Mühen drehte der Jugendliche den Kopf; noch immer hielt die Wache seinen Schopf gepackt. Mit seinem noch intakten Auge starrte er Breaca an, und langsam, wie benommen schien in ihm die Erkenntnis darüber heraufzudämmern, wo er sich eigentlich gerade befand. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder, denn er konnte nicht sprechen. Sein Blick
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