Die Seherin der Kelten
einschleusen können. Er hatte uns die Sache mit Caradocs Falle im Tal der Lahmen Hirschkuh verraten, und er war es auch gewesen, der sein verrücktes Biest von einem Pferd bei der Revolte in den Ländern der Eceni über den Festungswall gejagt hat, als Scapulas Sohn uns sonst allesamt hätte umbringen lassen. Ihr solltet mal Priscus fragen, wie der seine Zähne verloren hat. Ihr mögt vielleicht denken, die Silurer sind nur ein Haufen wilder Bastarde...«
Longinus wandte sich um, trat aus dem Türrahmen hinaus und hieß die anderen mit einer Geste, ihm zu folgen. Das meiste von dem, was er erzählte, entsprach auch tatsächlich der Wahrheit und war in den Legionen bereits zur Legende geworden. Die vier Burschen der Zwanzigsten Legion grinsten also, als sie, wenngleich mit anderen Worten, nun erneut all jene Geschichten erzählt bekamen, die sie doch bereits zur Genüge kannten.
»... das größte Problem wird werden, wie man ihn wieder raus zu den Silurern schafft, ohne dass die merken, dass wir ihn absichtlich haben laufen lassen. Zumindest habt ihr ihn ja schon einmal ausreichend verprügelt, damit es echt aussieht. Ich würde sagen, wenn wir schnell sind, hat er noch immer Zeit genug, um zu ›fliehen‹, wenn ihr versteht, was ich...«
Longinus war ein Kavallerist von ganz besonderer Tapferkeit, aber er war noch nie in Rom gewesen; er hatte noch nie die Arena dort gesehen oder war dabei behilflich gewesen, die Leichen jener Männer zu verbrennen, die ein Kaiser zuvor zu Verrätern abgestempelt hatte. Er hatte noch nie gesehen, wie genau sie gestorben waren, oder hatte die ganz außergewöhnliche Sorgfalt miterlebt, die jene Männer bewiesen, deren besondere Fertigkeit einzig darin bestand, die ihnen Zugewiesenen auf gar keinen Fall zu früh sterben zu lassen. In seliger Unkenntnis der Dinge hatte Longinus keinerlei Vorstellung von dem Risiko, das er da gerade auf sich nahm, das er aber auch all jenen aufbürdete, die unter ihm dienten.
Valerius dagegen, der all das schon gesehen hatte, kannte das Risiko genau. In der Zeit, die verstrich, während Longinus den eifrigen jungen Offizier der Zwanzigsten Legion durch die Tür winkte, sah Valerius, wie die zahlreichen Tode der Träumer, die die Inquisitionskammer bereits erfüllten, noch überlagert wurden von neun weiteren Toden, die noch wesentlich langsamer und blutiger waren; er sah das Sterben von acht Kavalleristen, die ihm allesamt am Herzen lagen; er sah den Tod eines Offiziers, den er einst sogar geliebt hatte.
Schon viele Male in seinem Leben hatte Valerius seinen eigenen Tod herbeigesehnt. Jedes Mal hatte er damit das Leben selbst verleugnet, hatte vor jenen Göttern und Menschen zu fliehen versucht, die ihn doch bereits von sich aus verstoßen hatten. Dieses Mal aber, in dem vollen Bewusstsein dessen, was er tat und für wen er es tat, tastete er nach Nemain und wurde von ihr umfangen, suchte nach Mithras und spürte auch dessen ungestümes Verständnis. Und da wusste Valerius, was er tun musste.
Der schlanke dunkelhaarige Novize Mithras’ war an der Tür angelangt. Ebenso wie seine Kameraden war auch er ganz gefangen genommen von Longinus’ Geschichten über vergangene Heldentaten, war beinahe trunken von dem Gedanken, wie äußerst knapp er selbst der Gefahr entronnen war, die mittlerweile allerdings auch schon wieder vorbei war, so dass er nun übermäßig laut lachte während jener Unterhaltung über Kriege und Schlachten und ein Leben, das er ebenso sehr fürchtete wie auch herbeisehnte.
Valerius streckte den Arm aus, um den jungen Mann am Verlassen der Kammer zu hindern. »Wenn sie herausfinden, was ich in der Gotteshöhle oben auf dem Berg angerichtet habe, werden sie dich dafür, dass du das zugelassen hast, lebendig häuten. Und das ist noch nichts im Vergleich mit dem, was Mithras mit dir anstellt, wenn du ihm eines Tages gegenübertrittst, wenn er in Fleisch gekleidet ist und du nur noch so dünn bist wie ein Geist.«
Der Bursche starrte Valerius stumm an, wagte es nicht, dessen Worte zu verstehen. Schließlich löste sich seine anhand von Longinus’ Erzählungen nachempfundene Erregung in Luft auf, als dem jungen Soldaten unwillkürlich die Erkenntnis dämmerte. Geradezu grün im Gesicht vor lauter Angst rang er um Worte.
»Was hast du denn getan?«, stieß er schließlich mühsam hervor.
»Ich habe die achtzehn Eisenstangen herausgezogen, die den Weg zum See des Gottes versperrten. Und ich habe die Opfergaben am Eingang der Höhle
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