Die Seherin der Kelten
ein Krieger, wie Cunomar einer war; auch er hatte die Wege und den Tod, der am Ende eines jeden dieser Wege lauerte, gesehen, und er hatte versucht, auf seine ganz persönliche Art, eine ebensolche Katastrophe zu verhindern. Doch auch er hatte in seinem Bemühen versagt.
Cunomar hatte die Würde wohl gesehen, mit der sein Vater damals in Rom seinem eigenen Tod ins Auge geblickt hatte. Während die Männer des Prokurators sich also zu einer Reihe formierten und acht von ihnen in das Schreibzimmer kamen, um Cunomar hinauszugeleiten, fand er etwas dieser besonderen Würde Ähnelndes auch in seinem eigenen Inneren, und er erklärte an Corvus gewandt: »Danke. Der Präfekt war stets ein Freund der Eceni. Meine Mutter schätzt dich sehr und wird dich immer schätzen, welches Schicksal auch immer sich nun über unsere Völker herabsenken mag.«
XXXIII
Der Gott erschien Valerius in Gestalt eines schwarzen Stieres. Zwischen seinen Hörnern hielt dieser den Mond. Oder vielleicht war es ja auch der Mond, der mit seiner sichelförmigen Klinge einen Stier bezwungen hatte.
Valerius sah ihn im Schein des Feuers am Rande des Feldes stehen. Und der Stier rührte sich auch nicht von dort weg, als Valerius sich erhob und auf ihn zumarschierte. Neben Valerius lief der Hund, schien wirklicher, greifbarer unter dem alten Mond als unter dem neuen.
Der Stier war ein reales Geschöpf aus Fleisch und Blut, voller Leben - erfüllt von den Säften und Kräften und der Leidenschaft des Frühlings. Gemächlich kam er zu der Dornenhecke herübergeschlendert, schnüffelte einen Moment an Valerius’ Hand und schlang eine lange Zunge um den Rand seiner Handfläche, angezogen von dem salzigen Geschmack von Schweiß.
Valerius blieb noch eine Weile bei dem Tier, lauschte auf den Wind, der durch den Weißdorn strich, und das Geflüster der Götter, und kehrte dann wieder zurück zur Feuerstelle. Er weckte Longinus, der sich schläfrig herumdrehte und, ganz ähnlich dem Stier, Valerius’ Handgelenk umfing und dessen Handballen küsste.
»Du riechst nach Vieh.«
»Auf dem Feld steht ein Stier.«
»Ah.« Longinus versuchte, sich umzudrehen, was ihm jedoch nicht gelang. »Ist er rot?«
»Nein, schwarz. Und es ist ein echter Stier, aber wir müssen trotzdem aufbrechen.«
»Warum mich das wohl nicht überrascht?« Mittlerweile nahezu völlig erwacht setzte Longinus sich auf. Während der zehn Tage, die ihre Reise nun schon dauerte, hatte er den Großteil des Gewichts, das er nach der Schlacht verloren hatte, wieder zugenommen; außerdem war aus seinen Augen der zehrende Ausdruck des Schmerzes gewichen. Er schüttelte den Kopf, um auch noch die letzten Reste von Schläfrigkeit zu vertreiben, und trank aus dem Becher voll Wasser, den Valerius ihm anbot.
Er blickte zur Hecke und zu dem Stier hinüber, welcher Longinus’ Blick erwiderte. »Ich wusste gar nicht, dass der Stiergott noch immer mit dir spricht, seit du doch sein Heiligtum entehrt hast.«
»Ich habe es ja wieder neu hergerichtet. Darum ist das etwas anderes. Und vielleicht ist es auch gar nicht Mithras. Wir befinden uns jetzt immerhin auf dem Gebiet der Eceni. Die Ahnen dieses Landes kannten den Gott in der Gestalt des Stieres schon lange, bevor die Legionen ihren Allvater aus Persien mit sich brachten. Aber zumindest kannst du schon einmal stehen; das ist gut. Kannst du auch laufen, was meinst du?«
»Wenn ich muss. Es war schließlich mein Kopf, der verletzt wurde, nicht meine Beine. Wohin gehen wir denn?«
»Wir wollen uns Waffen beschaffen, die nicht von Rom stammen. Wir gehen auch nicht weit, aber wir müssen vor Einbruch der Morgendämmerung wieder hierher zurückgekehrt sein.«
»Und warum können wir nicht reiten?«
»Jener Ort, zu dem wir nun wandern, wird bewacht. Die Pferde können dorthin nicht vordringen.«
Longinus erschauderte. »Aber wir sind doch wohl willkommen?«, fragte er.
»Ich hoffe es.«
Zuerst rannten sie, dann gingen sie im Schritttempo, schließlich rannten sie wieder. Hoch stieg der Mond am Himmel empor, und die Nacht war nicht mehr länger jung.
Durch die Fußsohlen hindurch spürte Valerius ein Beben: Nemains Flüstern, durchdrungen von Unterströmungen, die noch weitaus älter waren. Er folgte diesem Flüstern, ließ sich von ihm führen. Longinus, der bereits etwas ins Hintertreffen gelangt war, stürzte über eine Dornenwurzel. Er wurde langsamer und hatte offensichtlich Schmerzen.
Valerius drang durch ein Dickicht aus Wildrosen und
Weitere Kostenlose Bücher