Die Seherin der Kelten
hatte, hatte seine Pirschversuche aufgegeben. Er stand in der Mitte der Lichtung und starrte in die Richtung, von der er vermutete, dass Ardacos und seine Mutter sich dort aufhalten müssten. Genauso wie Ardacos, so jagte auch er nackt, und der ein Stück weiter am Himmel emporgestiegene Mond ließ sein Haar und seine Haut hell aufleuchten. Auf so vielerlei Arten war er das Ebenbild seines Vaters, und doch war er so ganz offensichtlich ein vollkommen anderer Mensch.
Breaca konzentrierte sich für einen Augenblick ganz auf jene kleinen Hinweise, die die von Caradoc weitervererbten Wesenszüge verrieten, und versuchte auf diese Weise, den Gedanken an den rot geäderten Katapultstein in ihrer Hand zu verdrängen. Dann stand sie auf und begrüßte ihren Sohn mit einem Lächeln. »Ich bin hier. Und wenn du bitte meinen Umhang von der Feuerkuhle ziehen könntest, bevor er ganz verbrennt, dann kann ich ihn vielleicht noch einige Nächte länger tragen.«
Ausdruckslos starrte Cunomar seine Mutter an. Im Gegensatz zu Ardacos trug er sowohl die Kalkfarbe als auch das Fett der Bärinnenkrieger auf seiner Haut. Und als ob er seine innere Haltung auch wirklich ganz deutlich hervorheben wollte, hatte er auf sein Gesicht immerhin so viel von der traditionellen Maske des Bärenschädels gemalt, wie es einem Jungen, der noch nicht seine drei langen Nächte in der Einsamkeit absolviert hatte, gerade noch erlaubt war. Weiße Kreise umschlossen seine Augen, und schmale Streifen zogen sich über die gesamte Länge seiner Wangenknochen hinweg, wo sie in einem Dorn endeten, der bis zu seiner Stirn hinaufreichte. Breaca hatte plötzlich das Gefühl, einen Fremden vor sich zu haben; tatsächlich aber war Cunomar ihr bereits fremd gewesen, seit er aus dem Schiff ausgestiegen war, das ihn von Gallien herübergebracht hatte. Genau das hatte auch die Ahnin ihr schon erklärt. Bislang aber hatte Breaca diese Wahrheit noch stets bestritten. Jetzt und hier jedoch verstand sie die vielen Schichten, die eine Wahrheit zuweilen ausmachten. Jetzt verstand sie endlich, welchen Preis sie für den Sieg zu zahlen geschworen hatte.
Und es ist besser, du verlierst sie jetzt an Mona ...
Leise wiederholte sie: »Cunomar? Du hast dich bei meiner Verfolgung sehr geschickt angestellt. Wenn du jetzt bitte meinen Umhang von der Feuerstelle nehmen könntest...?«
Er starrte sie noch einen Augenblick länger an, dann ging er wortlos und mit steifen Schritten davon, um ihrer Bitte nachzukommen. Weißer Rauch quoll in üppigen Wolken empor, gefolgt von einem kräftigen Auflodern der mangels Sauerstoff schon fast erloschenen Flammen.
»Ich danke dir. Hinter dem aufrecht stehenden Stein neben deinem linken Fuß liegt etwas Feuerholz. Wenn du es in die Flammen legen könntest, dann haben wir es wenigstens warm, während wir uns zusammensetzen und du mir erzählst, wie du dich so nahe an mich heranschleichen konntest. Die Späher der im Dienste der Römer stehenden Coritani würden dich in Gold dafür entlohnen, wenn du es ihnen verraten würdest.«
Breaca sprach, wie sie normalerweise mit einem Kind sprechen würde, und das bemerkte auch ihr Sohn. Er hockte sich neben die Feuerkuhle, und die Flammen erleuchteten die ganz und gar nicht mehr wie von dieser Welt scheinende Bärenschädelmaske auf seinem Gesicht - und in den Zügen unter der Farbe zeichneten sich Groll und Misstrauen ab. Sein Blick huschte kurz zu der Schleuder hinüber, die von Breacas Hand herabbaumelte, und verharrte für einen Augenblick auf der Waffe.
»War es Ardacos, der dich davon abgehalten hat, mich zu töten?« Es lag so viel Schmerz in dem Klang dieser Worte.
Dein Sohn verzehrt sich nach deiner Liebe. Warum schenkst du sie ihm nicht endlich? Aber um Liebe geben zu können, musste zuerst einmal ein offenes, ehrliches Verhältnis zwischen zwei Menschen bestehen, und es war lange her, seit Breaca ihm gegenüber das letzte Mal ganz offen und ehrlich gewesen war.
Breaca stand kurz davor, ihren Sohn endgültig zu verlieren. Und in diesem Bewusstsein setzte sie sich auf einen Stein und sprach mit ihm das erste Mal so, wie sie mit seinem Vater gesprochen hätte. »Nein, nicht Ardacos war es, der mich davon abgehalten hat, dich zu töten, obgleich er das wahrscheinlich getan hätte. Sondern ich dachte mir, dass du vielleicht nur der Lockvogel sein könntest, der vorausgeschickt worden war, um mich aus meinem Versteck zu locken. Ich wollte warten, um herauszufinden, wer da vielleicht noch hinter
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