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Die Seherin der Kelten

Die Seherin der Kelten

Titel: Die Seherin der Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manda Scott
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vorausschauende Träumerin hingegen, die schon um den Schmerz geweint hatte, den ihre Mutter nun gerade empfand, als sie noch einen ganzen Tagesritt von Breaca entfernt gewesen waren, und die auch geträumt hatte, wie ihre Mutter sich daraufhin in einem Wald versteckte - diese Träumerin durfte nun durchaus weinen.
    Diese beiden unterschiedlichen Seiten ihres Wesens lieferten sich in Graines Innerem nun einen so erbitterten Kampf, dass dem kleinen Mädchen tatsächlich die Tränen in die Augen stiegen - doch sie weigerte sich, sie hinunterkullern zu lassen. Graine trat einen Schritt zurück, bis sie gegen Airmid stieß, die dicht hinter ihr gestanden hatte, und ließ Trost suchend ihre kleine Hand in die der Träumerin gleiten.
    In Breacas Nacken richteten sich die feinen Härchen auf. Irgendwo in weiter Ferne erschallte das Lachen der Ahnin.
    … es ist besser, du verlierst sie jetzt an Mona, wo man sie liebt ...
    Wie ein Messer schälte die Erkenntnis der Wahrheit nun auch noch die letzten Illusionen aus Breaca heraus. Selbst als sie ihre Bedeutung noch gar nicht voll und ganz verstanden hatte, hatte sie die Logik der Ahnin bereits nachvollziehen können: Für die Menschen, die sie liebte, war es weitaus besser, wenn sie umsorgt im Westen blieben, als wenn Breaca ihrer aller Leben in den zerstörten Ländern des Ostens aufs Spiel setzte; dort, wo die Kinder letztendlich den Preis der Niederlage zahlen mussten, eingesperrt in einen Sklavenpferch. Nun, da sie die Wahrheit mit einer solchen Klarheit erkannte, da sich die Erkenntnis sowohl in Cunomar als auch in Graine unmissverständlich widerspiegelte, waren alle vorherigen Zweifel mit einem Mal verflogen, brachen sämtliche Trugbilder in sich zusammen.
    Breaca erhob sich, wollte ihnen all dies erklären, und musste feststellen, dass dort, wo sie gerade eben noch Graine gesehen hatte, nun Airmid stand. Mit einem Mal war es ihr unmöglich, noch irgendetwas zu sagen. Langsam sank sie wieder zu Boden.
    Airmid stand vollkommen reglos da. Die Träumerin war so hoch gewachsen, wie das Kind es mit Sicherheit niemals sein würde; einige bereits ergraute Strähnen in ihrem Haar leuchteten im hellen Schein des Feuers auf, und das über Airmids Brauen verlaufende Stirnband schimmerte, als ob es mit den Schuppen eines noch lebenden Lachses bestickt wäre. Um ihren Hals schmiegte sich eine Kordel mit versilberten Froschknochen, dem äußeren Erkennungszeichen ihres Traumsymbols. Im Licht der Flammen erschienen ihre Augen wie dunkle Tunnel.
    Als ob sie beide ganz allein wären, sagte sie: »Breaca, was hat die Ahnin dich sehen lassen?«
    Sie beide kannten sich seit ihrer Kindheit, waren die beiden Hälften der gleichen Seele. Selbst Caradoc hatte sich nicht zwischen sie drängen können. »Weißt du es denn noch nicht?«, erwiderte Breaca.
    »Ich möchte es aber lieber noch einmal von dir hören.«
    »Ich habe ein komplett verwüstetes Land gesehen. Die Rundhäuser waren abgerissen worden, um ihre Balken zu Feuerholz zu machen. Auf den Koppeln wuchs kein Futter mehr, die Tiere waren an Hunger eingegangen. Ich habe einen Pferch voller Kinder gesehen, man hatte sie zu Sklaven gemacht. Sie weinten Tränen aus Gold, und ihre verhungernden Eltern fingen die Tränen in ihren bloßen Händen auf, als wären sie wertvolles Getreide. Dann - das war das Geschenk der Ahnin an mich - sah ich auf einer Hügelkuppe eine Schlacht toben. Der römische Adler war zerschlagen worden, und über ihm schwebte der Schlangenspeer. Die Ahnin sagte, wenn ich in den Osten ginge und es mir gelänge, die Krieger noch einmal zum Kämpfen zu bewegen und ihnen Mut und Zuversicht einzuflößen, wenn ich es schaffen sollte, sie mit Waffen auszustatten, und wenn ich unter ihnen einen finden sollte, der ebenfalls noch eine Vision hat und der genügend Mut besitzt, um die Krieger in die Schlacht zu führen - wenn ich all das schaffte, dann wäre es möglich, das Blatt der Geschichte zu wenden und die römische Flut wieder zurückzudrängen.«
    Sie sagte jedoch nicht: »Und in den Sklavenpferchen sah ich Graine.« Dieser Teil der Vision gehörte ganz allein ihr, und so sollte es auch bleiben. Ein Bild, das man noch nicht in Worte gefasst hatte, konnte man immer noch wieder seiner Macht berauben.
    Die über der Lichtung schwebende Luft wurde kühler, und das Mondlicht strahlte klarer. Keiner bewegte sich, niemand sprach. Keine der beiden Visionen ließ noch irgendwelche Fragen offen; es gab keinen Spielraum mehr für

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