Die Seherin der Kelten
Licht.
Die Entscheidung war gefallen.
Der Gesang auf der Lichtung nahm unterdessen einen weicheren Tonfall an. In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit weinte ein Mädchen mit ochsenblutrotem Haar goldene Tränen, während sich auf einem weit entfernten Schlachtfeld der Schlangenspeer in die Lüfte erhob und die Vernichtung Roms verkündete.
Breaca streckte die Arme aus und hob ihre Tochter, das Kind ihres Herzens, aus dem Sattel. Aus der Dunkelheit heraus wurde sie dabei von jenen fünf Menschen beobachtet, die den anderen Teil ihres Herzens ausmachten.
Mit übertrieben förmlichen Worten - ansonsten hätte es ihr in diesem Moment gänzlich die Sprache verschlagen - verkündete Breaca: »Wenn die Träumer und Sänger von Mona nun in das Lied Brigas mit einstimmen wollen, dann soll jetzt der Augenblick gekommen sein, in dem die Kinder der königlichen Linie ihr Volk kennen lernen.«
Der Wildpfad führte weiter geradeaus und schließlich auf die Lichtung hinaus. Zahlreiche Fackeln bildeten einen großen Ring und ließen ihren nach Kiefern duftenden Rauch in die Luft aufsteigen. Über diesem Kreis von Fackeln hingen die letzten, noch nicht abgefallenen Blätter der Eichen und Ulmen; wie tausend schmale Streifen aus Bronze fingen sie das Fackellicht auf und warfen es noch um eine Nuance wärmer wieder zurück.
Leider waren die zwischen den Bäumen Wartenden den schimmernden Blättern zahlenmäßig um ein Vielfaches unterlegen. Graine stand neben ihrer Mutter, außerhalb des Rings aus Licht, und von ihrer Position aus konnte sie die Menschen innerhalb des Kreises leichter zählen. Sie waren weniger als ein Zehntel jener Anzahl von Leuten, die das Große Versammlungshaus auf Mona gefüllt hatten, als der westliche Kriegsrat sich das letzte Mal versammelt hatte, und sehr viele von ihnen waren schon alt. Die weißen Haarschöpfe waren eindeutig in der Überzahl, und der pfeifende Husten der bereits vom Winter Angegriffenen übertönte hin und wieder sogar die Totenklage des Sängers.
Efnís stand in den dunklen Schatten außerhalb des Kreises, und er sang noch immer. Seine Stimme umwob die Anwesenden mit einem Faden aus gesponnener Musik. Airmid und Dubornos schritten zwischen den Bäumen hindurch, um sich neben ihn zu stellen. Zuerst ganz leise und dann zunehmend kräftiger stimmten sie in seinen Gesang mit ein, und gemeinsam mit dem harzigen Rauch der Fackeln stieg ihr Lied zu Nemain empor. Mit drei Stimmen kam die verschlungene Melodie dem Klang, den sie annehmen mochte, wenn sie von einem ganzen Chor gesungen wurde, schon näher. Und sie schwoll immer stärker an, bis sie schließlich ihren Höhepunkt erreichte und dann ganz plötzlich abbrach. Die daraufhin einsetzende Stille war wie ein leerer Raum, der darum bat, belebt zu werden.
Nun war es zu spät, um sich Gedanken darüber zu machen, wie schlecht sie auf einen solchen Augenblick doch eigentlich vorbereitet waren. Graine hatte Angst; dennoch bewegte sich ihre Mutter von ihr fort. Wenn die Bodicea den Kriegern und den Träumern in dem Großen Versammlungshaus auf Mona gegenübergetreten wäre, hätte sie einen Umhang und eine Tunika getragen, die seit ihrer Herstellung kontinuierlich über einem schwelenden Feuer gehangen hatten und die folglich weder Feuchtigkeit noch Schimmel noch Motten kannten. In der halbtägigen Vorbereitung, die einer solchen Ansprache üblicherweise vorausging, hätte sie sich den neunfachen Kriegerzopf sowie die mit Golddraht umwickelten Kriegerfedern in ihr Haar geflochten, um damit die Ahnen zu ehren. Von ihrem Gürtel hätten auf der einen Seite ihr Schwert und auf der anderen Seite ihr Messer herabgebaumelt, und auf den Griffen beider Waffen wäre der Schlangenspeer zum Leben erwacht.
Hier aber stand sie nun in dem Bewusstsein, bereits eine mehrwöchige Reise hinter sich zu haben, vor der sie wiederum doppelt so lange allein in den Bergen auf Jagd gewesen war. Ihr Umhang war von der langen Reise völlig zerknittert und mit Schmutz beschmiert. Um die Ränder ihrer Tunika hatte sich ein Saum aus langsam trocknendem Schlamm gebildet, und ihre Stiefel hatte der Schneematsch durchweicht. Sie führte keinerlei Schwert bei sich, an seiner Stelle hing lediglich ihre Schleuder von ihrem Gürtel herab. Der Griff ihres Messers bestand aus einfachem Holz ohne jede Verzierung. Das Haar trug sie schlicht und in einem einzigen Zopf geflochten, und die silberne Krähenfeder war trübe und angelaufen, wo Ardacos sie mit dem Zipfel
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