Die Seherin der Kelten
den Torques noch die Silberfeder, die sie sich zu einem solchen Anlass eigentlich in ihr Haar hätte flechten müssen. Die Brosche an ihrer Schulter war auch bloß ein sehr einfach gearbeitetes Stück - in der Form eines Zaunkönigs -, und sie hatte einmal Macha gehört, war aber mittlerweile schon so lange getragen worden, dass ihre Form bereits zu verschwimmen begann. Ihr Haar war ungekämmt, und das Stirnband der Träumer hatte sie ohnehin nie getragen. All dies hatte keinerlei Bedeutung gehabt, solange sie unbemerkt in den Schatten gestanden hatte. Jetzt aber, da sie wieder zurückkehrte in die Arme des Volkes ihrer Mutter, besaß jede Kleinigkeit eine nicht zu unterschätzende Wichtigkeit - jetzt, da es ein ganzes Leben zu dauern schien, bis sie sich unter dem starren Blick von dreihundert nur widerwillig die Hand zum Gruße erhebenden Alten aus der sicheren Anonymität des Waldes gelöst hatte und vortrat in die Mitte des Kreises hinein.
Zwar hatten die Großmütter offenbar nicht gesprochen, doch schien es, als ob ihre Mutter auf wundersame Weise bereits selbst erkannt hätte, was nun zu tun war. Es ist sehr schwer, in Gegenwart eines Kindes auf seine Autorität zu pochen; und umso unhöflicher, dies vor einer Mutter zu tun, die vor ihrer Tochter kniet und ihr sanft das Haar zerzaust. Und ebenso zögerlich, wie erst kurz zuvor noch der leichte Wind die Gräser sich hatte aufrichten lassen, so drückte die Brise sie nun wieder flach auf die Erde hinab. Zuerst einzeln, dann zu zweit und schließlich in Gruppen ließen die alten Eceni die Arme sinken und setzten sich wieder auf den Boden.
Breaca drückte Graine einen raschen Kuss auf die Stirn, dann nahm sie sie bei der Hand und schritt zu dem Stapel zusammengelegter Pferdefelle hinüber, die am westlichen Rand des Kreises zu einer Art Sitzplatz aufgeschichtet worden waren. Sie packte die unterste der Häute am Rand und zog damit den ganzen Stapel ein Stück nach vorn, nicht ganz bis in die Mitte hinein, aber fast.
Mit dem vertrauten, neckenden Unterton einer Mutter sagte sie zu Graine: »Meinst du, du kannst schon so auf den Fellen Platz nehmen, wie die Alten es tun?«
Aber natürlich konnte sie das. Wenn es der Wunsch ihrer Mutter gewesen wäre, dann hätte Graine sich in diesem Augenblick sogar bis in den Himmel hinaufschwingen und dabei wie ein Zaunkönig singen können. Genauso, wie sie es bereits viele Male mit Airmid in deren kleiner Steinkate auf Mona geübt hatte, breitete Graine nun ein wenig die Arme aus, so dass ihr Umhang in einer glatten Linie über ihren Rücken hinabfiel, zog die Beine unter sich und ließ sich in der vorgeschriebenen, ordentlichen Haltung auf den Fellen nieder.
Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel; mehr an Airmid gerichtet denn an Nemain. Und dann hob Graine von den Eceni den Kopf und schaute mit ernstem Gesichtsausdruck auf die Versammlung der Träumer ihres Volkes. Dreihundert alte Männer und Frauen erwiderten ihren Blick. Mindestens die Hälfte von ihnen weinte. Breaca stand hinter Graine, beide Hände auf die Schultern ihrer Tochter gelegt. Als sie anschließend die Stimme erhob, schien es, als spräche sie jeden der Anwesenden ganz persönlich an.
»Dies hier ist die erste und einzige Tochter von meinem Blut, Graine nic Breaca mac Caradoc. Erhebt ihr euch also zum Gruße, so soll dieser fortan ihr gelten. Sie ist die Zukunft, die eine, für die wir die vergangenen vierzehn Jahre lang im Westen gekämpft haben und für die wir nun auch im Osten zu den Waffen greifen werden. Im Gegensatz zu uns ist Graine in den Krieg bereits mitten hineingeboren worden. Wir haben alles getan, was wir nur konnten, um sie gemäß ihrem Geburtsrecht zu erziehen, haben jeden Tag im Angesicht der Götter gelebt, auch in dem Bewusstsein, dass eure Kinder diesen Vorzug nicht genießen durften. Nun sind wir gekommen, um uns euch anzuschließen, um Graine in ihrem Heimatland aufwachsen zu lassen und um sicherzustellen, dass für ihre Kinder ebenso wie für die euren die Wahrnehmung dieses Geburtsrechts bald keine Ausnahme mehr sein soll. Genau dieses Ziel ist es, für das wir mit eurer Hilfe gegen Rom kämpfen und für das wir Rom besiegen werden.«
Hätte die Bodicea zu den Kriegern des Westens gesprochen, hätte sie gewiss keinerlei Anstrengungen unternehmen müssen, um ihre Zuhörer dazu zu bewegen, nun die Schwüre des Mutes und der Ehre abzulegen. Sie wären inzwischen längst aufgesprungen, hätten lautstark danach verlangt, die Ersten
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