Die Seherin der Kelten
auch wenn wir natürlich bereits von den Heldentaten gehört haben, die die Tochter von Caradoc in den Schlachten an der Seite der Bodicea vollbracht hat, so ist all das doch trotzdem noch zu wenig, und es kommt zu spät. Unser Volk liegt bereits am Boden, und so schnell richtet man uns nicht wieder auf.«
Der Schnabel des Raben thronte nun auf einem emporgereckten Arm und riss seine beiden Kiefer weit auseinander, so dass die Stimme der Frau plötzlich aus dem gähnenden Rachen des Tieres zu erschallen schien. Nun war die Stimme ganz und gar nicht mehr weich. Wer auch immer sie auf Mona unterrichtet haben mochte, er durfte stolz sein auf seine Schülerin.
»Geh wieder zurück nach Hause, Breaca, ehemaliges Oberhaupt der Eceni. Wir haben jetzt einen anderen Anführer, und dessen Macht stammt von dem Kaiser in Rom, der sich selbst gern zum Gott erheben will. Für dich gibt es hier keinen Platz mehr. Du tust besser daran, wenn du im Westen bleibst und dort kämpfst. Wir werden dich und deine Familie weiterhin in Ehren halten. Eure Träumer sollen deine Kinder lehren, wie man träumt, damit sie dieses Wissen dann einst an die nachfolgenden Generationen weitergeben können. Unsere Kinder aber sind bereits verloren, und sie kann niemand mehr befreien.«
Graine blieb der Atem geradezu im Halse stecken, und sie spürte, wie Cunomar neben ihr nervös hin und her zu rutschen begann, bis er sich offenbar selbst wieder zur Ordnung rief. Seit ihrer frühesten Kindheit wussten sie, dass der Schutz der Kinder der Eceni das eigentliche Lebensziel ihrer Mutter war. Und eine solche Vision ist etwas ganz Privates, nichts, das ein Fremder einfach so und vor lauter anderen Fremden laut aussprechen dürfte.
Falls dies Breaca also erschüttert haben sollte, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. »Und dennoch seid ihr alle zu dieser Versammlung erschienen, die nur allzu leicht von den Legionen entdeckt werden könnte«, widersprach sie, »ihr, die ihr genauso gut in euren Häusern beim Feuer hättet sitzen bleiben können, wo ihr in Sicherheit gewesen wärt.«
Die grauhaarige Frau ließ den Totenschädel sinken. Nun sprach sie wieder mit ihrer eigenen Stimme. »Egal, welches Schicksal uns auch heimgesucht haben mag, so bist du doch noch immer ein Spross unserer königlichen Linie, und auch der Mut fehlt uns noch nicht gänzlich. Wir wollen es dir gegenüber nicht an der dir gebührenden Ehre mangeln lassen. Wir wollen dir lediglich zeigen, was aus uns geworden ist, damit du zurückkehren kannst, woher du gekommen bist, und besser dort weiterkämpfst. Unserem Volk hier kann niemand mehr helfen. Aber deswegen muss der Westen ja noch nicht verloren sein. Solange Mona noch besteht, besteht auch noch Hoffnung.«
So schnell sie aufgestanden war, so rasch setzte sich die Frau nun wieder. Auf Mona wäre es kaum möglich gewesen, den Rest der Menge nunmehr so ruhig und still auf seinen Plätzen zu halten wie diese Menschen hier. Im Wald des Ostens aber wagte es niemand, sich zu erheben und den Worten der Frau seine eigene Meinung hinzuzufügen.
In der sich immer länger ausdehnenden Stille ließ Breaca ihren Blick prüfend über die Runde schweifen. Graine, die als Einzige unmittelbar vor ihrer Mutter saß, spürte genau, wie ein erster Schauer der Anspannung durch den Körper der Bodicea lief. Den äußeren Anschein von Ruhe und Gelassenheit zu bewahren kostete ihre Mutter mit einem Mal mehr Kraft als noch vor einigen Augenblicken, und für jemanden, der es gewohnt war, genau zu beobachten, waren die kleinen Anzeichen dafür bereits deutlich erkennbar: Weiß traten an der unter ihrem Umhang verborgenen Hand die Fingerknöchel hervor; und einmal rieb ihre Mutter sogar mit dem Daumen über die Spitzen der anderen Finger, wie um ihr Empfindungsvermögen zu testen. Breaca wartete auf etwas, doch noch hatte sich nichts ereignet. Wenn es aber endlich eintreten sollte, dann, so überlegte Graine im Stillen, würde es zweifellos zu einem Kampf kommen.
Doch nichts von alledem ließ sich an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, außer vielleicht an ihrer Stimme, als sie fragte: »Dann ist dies also euer aller Entscheidung?«
Sie war die Bodicea, die Anführerin der Armeen; sie konnte in eine einfache Frage eine solche Schärfe legen, dass sich alle schämten, vom Ranghöchsten bis hin zum Unbedeutendsten von ihnen.
»Nein.«
Es erhob sich ein Mann mittleren Alters. Sein Haar war bereits ergraut, und um die Schultern trug er einen Biberpelz. Er
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