Die Seherin von Knossos
ein elektrischer Schlag durch ihren Körper und ließ ihr vor Schreck alle Haare zu Berge stehen, von den Stummeln auf ihren Knien bis zu den rückenlangen Lok-ken, die von ihrem Kopf herunterflossen. Irgendwo, irgendwer, Zerstörung; Chloe konzentrierte sich. Sie kam sich vor wie eine Radioantenne auf der Suche nach Empfang. Entsetzen, nicht um ihretwillen, sondern um die anderen, ergriff sie. Es war zu spät! Sie kamen zu spät! Sie versuchte, ihre Vision mit Sibyllas Erinnerungen in Einklang zu bringen.
Samtgrüne Felder wurden entzweigerissen. Gebäude stürzten in brodelnde Seen aus Schlamm. Menschen kämpften darum, den Halt nicht zu verlieren, und wurden stattdessen von Flammen verschlungen.
Nein!, dachte Chloe. Es darf nicht zu spät sein!
»Vögel«, sagte Chloe laut, eine Hand um das Handgelenk des Mannes gekrallt, die Augen weit aufgerissen und blind. »Sofort. Bring mir Vögel.« Er wich zurück, und sie bemerkte, dass alle sie anstarrten. Das war egal. Was hatte sie gesehen?
Sibylla!, brüllte sie im Geist. Wach auf! Sag schon, welche Insel ist grün und hat viel Marmor? Sag schon, verdammt noch mal. Das Gebrüll und die Panik in ihrer Stimme weckten Sibylla, die mürrisch antwortete.
Naxos.
Naxos, die Insel der Sippe des Rebstocks, war die grünste, üppigste im Aztlantischen Imperium. Sie lieferte nicht nur Wein, sondern auch Gemüse und Getreide an alle anderen Sippen im Imperium. Die Insel war gut gesichert, auf allen Gipfeln erhoben sich Wachtürme, bemannt mit Männern aus der Sippe, die ihre Insel mit dem Leben verteidigen würden. Sobald auch nur einer von ihnen die Holzstapel entzündete, die auf vielen Dächern bereitlagen, würde sich die ganze Insel wappnen, gegen Feuer, Insektenschwärme oder eine Invasion zu kämpfen. Naxos war die Vorratskammer des Imperiums.
Nördlich davon befand sich Delos, beziehungsweise das, was von der verkohlten Insel noch übrig war. Immer noch schwebte Asche in der Luft, weshalb die Menschen auf Naxos Dekane damit zugebracht hatten, alle Pflanzen abzustauben, damit sie genug Sonne und Wasser bekamen. Die Aquädukte, die auf Naxos die Anbaugebiete säumten, führten frisches Wasser aus dem Speichersee zu den vielen Parzellen und Feldern, die sich entlang der Hügel und auf ihren Abhängen erstreckten.
Die natürlichen, von Marmorstränden gesäumten Buchten machten es den Schiffen leicht, vor Anker zu gehen. Meist begann der Tag auf Naxos damit, dass sich Kaufleute trafen und grüßten, miteinander feilschten und einander bei einem Rhyton mit verwässertem Wein und bei frischem Obst übers Ohr zu hauen versuchten. Das Rückgrat der Insel, eine Kette von hohen Berggipfeln, verlief in einer gezackten Linie von Nord nach Süd. Zwischen den Küstenstädten und dem Bergrücken lag ein fruchtbares Tal voller knospender Obstgärten und hochrankender Weinreben.
Oberhalb der Stadt Demeter ergoss sich die Villa des Sippenoberhauptes Bacchi über mehrere Ebenen. Jede einzelne Terrasse war üppig mit Blumen geschmückt und sah auf den Kanal zwischen Delos und Paros. Inzwischen war es Abend, und überall brannten in den Häusern warme Öllampen, genau wie in der Wohnung des Oberhauptes.
Ein Mann aus seiner Sippe brachte ihm einen Rhyton mit Wein und eine Botschaft aus Kaphtor. »Öffne sie«, befahl Bac-chi.
»>Das Orakel der Sibylla warnt vor einer Katastrophe««, las der Mann von dem Papierschnipsel ab.
Eine Katastrophe? Das Oberhaupt ließ den Blick über seine Sippe wandern. In der Luft lag ein Hauch von Erblühen, Oregano und Thymian überlagerten das Aroma der Speisen, die von Tausenden von Frauen zubereitet wurden. Das Meer war ruhig, die weiß gerüschten Wellen schlugen tief unter ihm gegen die Felsen und wiegten sanft die Schiffe im Hafen.
Sein Blick fiel auf die Katzen, die seine Terrasse als ihre persönliche Schlafveranda betrachteten. Keine Katze rührte sich, alle sogen die restliche Sonnenwärme aus dem Stein.
Eine Katastrophe?
Noch nie hatten die Obstgärten so üppig in Blüte gestanden. Die Preise waren besser als je zuvor. Die Sippe des Rebstocks entwickelte sich bei den Sitzungen des Rates allmählich zu einem unverzichtbaren Faktor mit großem Gewicht.
»Vielleicht hat Sibylla den Ausbruch auf Delos vorhergesehen«, sagte Bacchi. »Hier haben wir nichts zu befürchten.«
»Soll ich eine Warnung an die Mitglieder der Sippe ausschicken, mein Meister?«
Bacchi sah den stämmigen Mann an. »Mach einen Spaziergang am Strand, wenn dir danach
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