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Die Seherin von Knossos

Die Seherin von Knossos

Titel: Die Seherin von Knossos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Frank
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nachdem er vor vielen Monden den ersten Leichnam geöffnet hatte, war ihr eingefallen, dass er die Kranken mit Gesunden vergleichen musste. Zwischen ihm und Phoebus war es wegen seiner Forschungen beinahe zu einem Schlagabtausch gekommen, da Cheftu um die Zustimmung zu neuen Behandlungsmethoden gebeten und Phoebus ihn dabei auf Schritt und Tritt blockiert hatte.
    Den Göttern sei Dank, dass der Aufsteigende Goldene mit seinen Übungen für die bevorstehenden Megaloshana’a-Rituale beschäftigt war. Der Tisch wackelte. Schon wieder ein Erdbeben, dachte Cheftu müde. Er richtete sich auf, mühsam das Gleichgewicht haltend, und trat an seinen neuesten Leichnam.
    Nach der ersten Leichenöffnung war ihm tagelang übel gewesen, doch Chloe hatte Recht behalten, er hatte eine gewisse Toleranz entwickelt. Nestor platzte ins Laboratorium, gefolgt von Vena. Cheftu verzog sich ins Hinterzimmer. Die beiden lagen sich ununterbrochen in den Haaren. Nestor wollte nicht, dass sie Ileana herausforderte; sie hingegen übte verbissen für das Rennen.
    Cheftu wagte sich nicht auszumalen, was geschehen würde, falls Chloe gewann. Ein einziges Mal hatte er das Thema zur Sprache gebracht; damals hatte sie sich schlicht geweigert, ihre Teilnahme abzusagen, unter der Behauptung, sie hätte ein Abkommen mit Sibylla. Er hatte den Verdacht, dass sie, ihren ausschweifenden Klagen zum Trotz, Gefallen am Laufen, an der Disziplin des Übens fand.
    Er sah auf den Kadaver. Mon Dieu, was brachte diese Leute nur um? Er hatte in den vergangenen Monden so viele Herzen, Lebern, Eingeweide und Lungen begutachtet, dass ihm schon bei dem Gedanken an Foie Gras schlecht wurde. Sein Blick kam auf dem Gesicht des Mannes zu liegen; es war zu einer ewigen Grimasse geronnen. Was kann ich noch untersuchen?, fragte sich Cheftu mit starrem Blick.
    Das kann ich noch untersuchen!
    Erschüttert über das, was er zu tun beabsichtigte, holte Cheftu ein Utensil hervor, das Imhotep aus Ägypten mitgebracht hatte. Ein Gehirnhaken, wie er zum Einbalsamieren verwendet wurde. In Ägypten war es Brauch, dass das Gehirn entfernt und mitsamt dem Körper bestattet wurde. Angespannt griff Cheftu auf Fähigkeiten zurück, die er sich vor langer, langer Zeit angeeignet hatte.
    Er steuerte den Haken durch die Nasengänge und drehte, sobald er spürte, dass das Gerät knapp hinter der schweren Knochenplatte an der Stirn angelangt war, das Handgelenk. Das Instrument glitt und schnitt in das weiche Gewebe, dann kehrte Cheftu den Prozess um. Mühsam und in winzigen Fetzen holte er das Gehirn des Mannes ans Tageslicht.
    Nachdem Nestor und Vena ihren Streit beendet und sich wieder versöhnt hatten, ließ Cheftu Nestor am nächsten Leichnam arbeiten. Während einer Seuche, so geräuschlos sie auch zuschlagen mochte, herrschte an Leichen kein Mangel.
    Sie breiteten ihre Proben nebeneinander aus, um sie zu untersuchen und zu vergleichen. Chloe hatte ihm erklärt, er brauche ein Mikroskop - nicht dass sie ihm beschreiben konnte, was das war -, doch in einer Zeit, in der man nicht einmal Glasscheiben kannte, waren geschliffene Linsen ein Ding der Unmöglichkeit. Zum Ausgleich schauten sie einfach ganz, ganz genau hin, während der Schreiber in der Ecke jedes Wort ihrer Diskussion aufzeichnete.
    Als sie so lange gearbeitet hatten, dass er nichts mehr klar erkennen konnte, ließ sich Cheftu zurücksinken. »Ich weiß nicht, wo ich sonst noch suchen könnte.« Nestor zog müde die Achseln hoch, und dann stiegen sie die Wendeltreppe hinauf in das Land der Lebenden.
    Als er später mit wieder klarem Kopf und schweren Gliedern neben Chloe lag, erzählte ihr Cheftu von seiner Gehirnuntersuchung.
    »Du hast nichts gesehen? Na ja, wenn irgendetwas das Gehirn fasziniert, dann ist es gut möglich, dass es zu klein ist, als dass man es mit bloßem Auge erkennen kann.« Sie verstummte, und er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war ein einziges Wunder, ihren Leib lieben und von ihrem Geist lernen zu können. Er war wahrhaftig vom Glück gesegnet.
    Ein leises Rütteln ließ ihre Körper erzittern, und Cheftu schirmte Chloe ab, bis es wieder abgeflaut war. Weißer Kalkstaub war auf sie herabgeregnet, darum standen sie auf und säuberten das Bett, ehe sie sich wieder Haut an Haut niederlegten. Als er schon halb eingeschlafen war, schoss Chloe mit einem Satz hoch.
    »Neunte Klasse!«
    Cheftu, aus dem Halbschlaf gerissen, murmelte einen Fluch, doch sie plapperte in einer Mischung aus Englisch und Aztlan-tisch

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