Die Seherin von Knossos
Gemächern.
Von Cheftus Leibeigenen erfuhr sie, dass er im Laboratorium war. Das Labor war ein düsterer, muffiger Ort, in dem es erbärmlich stank. Wenigstens hatte Cheftu ihn gut ausgeleuchtet.
Übertrieben auf den Zehenspitzen in Richtung Hinterzimmer schleichend, versuchte sie ihn zu überraschen und ...
Chloe stolperte über etwas auf dem Boden und konnte sich eben noch abfangen. Cheftu!
Er lag zusammengekrümmt vor ihr, und Chloe suchte hektisch nach seinem Puls. Ja, er schlug regelmäßig. Sie fuhr mit den Händen über seinen Leib, auf der Suche nach Wunden, Abschürfungen - er war wirklich dünn geworden. Immer noch war er ein Brocken von Mann, doch inzwischen war er wesentlich magerer als früher, eher ein Läufer- als ein Bergsteigertyp.
Chloe rief nach einem Leibeigenen und drehte Cheftu auf den Rücken. Nestor kam hinter dem Leibeigenen angelaufen. »Spiralenmeister!«, rief er aus. »Bei Kela, was ist passiert?«, fragte er, ehe er neben Chloe niederkniete. Die beiden Männer trugen Cheftu in seine Gemächer und legten ihn auf seiner Liege ab.
»Was ist mit ihm?«, fragte sie Nestor.
»Das weiß ich nicht, Sib. Niemand darf ihn untersuchen. Du weißt doch, dass niemand den Spiralenmeister behandeln kann.«
»Was?«, hakte Chloe entrüstet nach.
»Er ist der Meister. Wenn er krank wird, dann -«
»Dann verendet er, weil niemand sich um ihn kümmert? Raus!«, befahl sie.
»Herrin!«, protestierte Nestor mit erhobenen Händen.
»Raus, habe ich gesagt. Ich werde mich um ihn kümmern.«
»Herrin, Kela-Ata Embla ist krank«, sagte ein Leibeigener von der Tür aus. »Sie braucht eure Hilfe.«
»Nestor wird sich um Embla kümmern«, fuhr sie ihn an.
Zornbebend versuchte Chloe sich darüber klar zu werden, was sie jetzt tun sollte. Cheftu fieberte nicht, schwitzte nicht, er bibberte nur.
Er warf sich herum, als wäre er in einem Albtraum gefangen, und er brauchte dringend Wasser.
Mit Hilfe des Leibeigenen zog sie ihn aus und massierte Pfefferminzöl in seine Haut; sie kam sich hilflos vor. War er schlicht und einfach aus Erschöpfung zusammengebrochen?
»Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.« Dion zog die Doppeltür hinter sich zu.
»Apis sei Dank. Was kannst du für ihn tun?«
Das Sippenoberhaupt untersuchte Cheftu äußerlich, um dann zu verkünden, dass er gesund sei, aber dringend Ruhe und etwas zu essen brauche. Sibylla allerdings werde bei der Vereidigung der neuen Kela-Ata gebraucht, erklärte er. Embla war gestorben; offenbar war ihr die Völlerei zum Verhängnis geworden.
Man hatte sie tot aufgefunden, mit einer halb gegessenen Garnele in einer Hand und die andere Hand um die Kehle ge-krampft, als hätte sie versucht, etwas auszuhusten.
Zu viele Informationen, dachte Chloe, während sie durch die Gänge des Palastes hastete, bis sie abrupt stehen blieb. Sie schnippte nach einem Tragsessel.
Vergiss nicht, dass du dich in den letzten Tagen vor dem Rennen auszuruhen versuchst, ermahnte sie sich.
Dion schlug das Laken zurück und betrachtete Cheftus Körper. Es war ihm von Anfang an klar gewesen, dass er so aussehen würde, perfekt bis in jeden schlanken Muskel, als würde sich selbst in seinem Fleisch das Einfühlungsvermögen, die Macht und Selbstbeherrschung eines Spiralenmeisters zeigen.
Nach einem Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass niemand zuschaute, berührte Dion Cheftus Haut. Er rasierte und wachste sich wie ein Ägypter, selbst in der Schamgegend, doch seine Nacktheit hob nur hervor, wie Apis ihn beschenkt hatte.
Und wie hatte Apis ihn beschenkt!
Dion stockte der Atem, als seine Finger über die Haut des
Mannes glitten. Sein Antlitz war ein winziges bisschen heller als Dions, doch immer noch dunkel. Er berührte die Flanken des Mannes, und Cheftu zuckte im Schlaf. Den Blick achtsam auf Cheftus Gesicht geheftet, fuhr Dion mit den Händen über Cheftus Leib.
Und da spürte er es. Einen Klumpen, eine harte Beule unter der ölglatten Haut des Spiralenmeisters. Dion beugte sich tiefer, den Blick auf die Schwäre konzentriert und sich nur zu bewusst, wie nahe sein Mund jetzt am ...
Cheftus Knie traf ihn am Kiefer, und Dion wirbelte zur Seite, Tränen in den Augen.
»Was in Apis Namen tust du da?«, zischte der Ägypter. Er bedeckte sich und musterte Dion mit einem wütenden Blick, bei dem der Zorn aus seinen sandfarbenen Augen sprühte.
Dion wischte sich eine Blutschliere aus dem Mundwinkel. »Du warst krank. Ich habe mich über einen Ratsbeschluss
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