Die Seherin von Knossos
Mengen von Bier mit Mohnsaft konsumiert; er war bei Besinnung, aber betäubt. Cheftu bedeutete den Priestern, die Hände des Patienten an die Armlehnen zu fesseln und den Kopf auf der Kopfstütze festzuhalten.
Cheftu würde den Katarakt nicht wirklich entfernen. Er würde ihn nur in winzige, unauffällige Stücke aufbrechen und diese im Auge verteilen, sodass das Blickfeld wieder frei war. Cheftu fasste mit der Rechten das winzige Messer und schickte ein Stoßgebet um eine ruhige Hand und ruhige Nerven zu le bon Dieu. Man hatte ihn im Haus des Lebens gelehrt, beide Hände mit gleichem Geschick zu gebrauchen, dennoch bevorzugte er die linke Hand. Doch auch nachdem die Schiene entfernt worden war, ließen sich die Finger nicht ganz abbiegen.
Er schloss die Augen, richtete seine gesamte Kraft und Energie auf den Patienten und bohrte dann vorsichtig die Lanzette in das milchige Weiß zwischen dem Augenwinkel und der Iris. Cheftu blendete alle anderen Geräusche aus, er lauschte nur noch auf das leise Knacken, während er zugleich Ausschau nach den Tränen hielt, die ihm zeigen würden, dass er den Katarakt erwischt hatte. Mit schnellen, präzisen Bewegungen zerteilte er die Deckschicht in mehrere Stücke. Schließlich legte er ein in Honig und Fett getränktes Leinen über das Auge und
widmete sich dem zweiten.
Ipiankhu beobachtete die Hand des Magus, die über Pharaos regloses Gesicht huschte. Abgesehen von dem unbewussten Zucken in seiner linken Hand bewegte sich der Magus wie ein Artist. Wo hatte er sich diese Fähigkeiten angeeignet? Woher wusste er, was zu tun war? Ägypten hatte die besten Ärzte der Welt; der Mann war Ägypter, doch zugleich hing ihm ein un-benennbarer Hauch von Fremdheit an. Es war, als würde er eine Rolle spielen. Soviel konnte Ipiankhu erkennen, schließlich hatte er selbst in seinem Leben schon viele verschiedene Rollen gespielt. Doch ihm fehlte jede Vorstellung, welches Motiv sich hinter Cheftus wachsamem Verhalten verbarg. Auch auf Senwosrets anderes Auge wurde ein Leinenpflaster gelegt, danach richtete sich der Magus auf.
»Es wird noch einige Tage dauern, bevor wir sicher sein können, doch ich habe das Gefühl, dass die Operation erfolgreich war, so die Götter wollen.« Das allgemeine Ausatmen der Zuschauenden ließ ein schwaches Lächeln auf seine Lippen treten. Ipiankhu trat vor; Cheftu wäre sein Gast, bis Pharao geheilt war. Unter den gebührenden Verbeugungen und Verabschiedungen verließen sie den Palast und schlugen den Weg in die Stadt Avaris ein. Zwar konnte man Ipiankhus Haus vom Palast aus über einen Privatweg erreichen, doch er mischte sich gern unter die Rekkit. Falls den Magus das überraschte, verstand er es gut zu verbergen.
Lehmziegelhäuser, aneinander gelehnt und immer wieder gekalkt, Bogendurchgänge, schattige Nischen, wo im Sommer die Kinder spielten und im Winter die alten Männer rasteten. Die Straßen, in den wohlhabenderen Vierteln gepflastert, waren hier noch schlammig. Hageres Geflügel pickte in dem Morast unter ihren Füßen. Müde Hausfrauen mahlten Getreide zu Mehl. Kinder, die Augen schwarz von Fliegen, tobten zur Musik langsamer Wassertropfen durch die Höfe.
Ipiankhu biss die Zähne zusammen und kehrte in Gedanken in ein grünes, fruchtbares Ägypten zurück. Es würde wieder so werden, das wusste er; er fragte sich nur, wie viele sterben mussten, während sie darauf warteten. Sie spazierten über den Markt. Geschmeide war wohlfeil, das Brot teuer. Er sah, wie zwei Rekkit-Buben versuchten, einen Fischhändler zu bestehlen. Sie waren flink und gewitzt, doch der Mann war wütend, und der Zorn machte ihn rücksichtslos. Als der Fischhändler die dürren, schmutzigen Kinder mit seinem Messer bedrohte, beeilte sich Ipiankhu, dazwischenzugehen. Der Wesir ganz Ägyptens war plötzlich wieder ein Kind, das sich fragte, ob es wohl getötet oder in die Sklaverei verkauft würde. Um den Fischhändler zu besänftigen, kaufte Ipiankhu die Kinder um den Preis eines Monatslohns frei. Er presste die Lippen zusammen. Wieder einmal nahm der Unbekannte, was zum Bösen bestimmt war, und wendete es zum Guten.
Cheftu sah, wie die beiden zerlumpten Buben dem Wesir folgten. Er verstand ihn nicht. Bis zu Ipiankhus letzter Tat hatte es Cheftu nicht einmal versucht. Wenigstens bot der mysteriöse Ipiankhu etwas Ablenkung von dem Leid, in dem Cheftu erwacht war, jenem Leid, das ihn jeden Tag bis in seine Träume verfolgte. Chloe, Chloe - so quicklebendig -, es war doch
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