Die Seherin von Knossos
den anderen, schwer auf seinen Stock gestützt. Seine hellen Augen warfen mehr zurück, als sie enthüllten. Sein Leib wies nach der jüngsten Begegnung mit dem Apis-Stier zwar Narben auf, doch keinerlei Anzeichen von Hunger: lose Zähne, Haarausfall, Schlaffheit oder matte Haut. Der Mahn sah aus, als wäre er direkt aus dem Ägypten vor drei Überschwemmungen am Hof aufgetaucht. Vor drei todbringenden Überschwemmungen, korrigierte Ipiankhu. Der Magus bewegte sich hölzern, königlich, den Kiefer vorgeschoben.
Imhotep sagte, er hätte sich praktisch geweigert zu sprechen oder irgendeine Erklärung abzugeben, was Ipianku ebenso nervös machte wie Imhotep. Cheftu war zutiefst verärgert und verletzt. Als ihm die beiden von dem Leichnam der Frau erzählt hatten, hatten sie damit ein Monster von der Kette gelassen, das einen ganzen Raum in Trümmer gelegt hatte und vor dem sich die Sklaven ängstlich verkrochen. Einen solchen Mann in Pharaos Nähe zu lassen, war absolut unverantwortlich, doch nicht einmal sie konnten sich einem direkten Befehl widersetzen. Wer hätte gedacht, dass Pharao diese Operation verlangen würde? Senwosrets Berater hatten mit ihren Bitten kein Gehör gefunden. Ipiankhu seufzte schwer.
Pharao konnte sich nicht bewegen, seine offenen Augen sahen nichts. Gemeinsam mit dem gesamten Hof hielt Ipiankhu den Atem an. Sollte sich der Traum als wahr erweisen? War dieser Mann mit den goldenen Augen die Katze, von der Pharao in seinem Traum geheilt worden war?
»Es ist, wie ich befürchtet habe«, sagte der Magus langsam. »Die Ablagerungen befinden sich in den Augen.«
Imhoteps Blick zuckte zu Ipiankhu hinüber, dann sah er wieder auf den Magus. »Kannst du ihn heilen?«
Unglaublicherweise zuckte der Mann mit den Achseln.
»Ich kann es versuchen. Nur Gott heilt.«
Imhotep fühlte eine Feuerspur durch seinen Körper laufen. »Gott«, im Singular. Meinte dieser Mann damit Amun-Re? Doch sein Tonfall . Ipiankhu schluckte und trat näher.
»Versucht es!«, befahl Senwosret. Ipiankhu sah, wie die verschiedensten Gefühle über das Gesicht des Magus jagten, ehe der Fremde den Kopf neigte und sich flüsternd und gestikulierend an Imhotep wandte. Werkzeuge, Heilmittel, vermutete Ipiankhu, wurden dem Magus vorgeführt. Sklaven schlängelten sich durch die Gesellschaft, reichten Wein und Bier, Honigkuchen und angematschtes Obst. Die Wartenden drängten immer näher heran, bis der Magus herumfuhr und sie wütend ansah.
»Das ist kein Ringkampf. Ich brauche absolute Stille, um diese Operation auszuführen. Den größten Dienst würdet ihr Pharao, ewig möge er leben!, und Ägypten erweisen, indem ihr verschwindet.« Ipiankhu winkte einem Wachposten, der die protestierenden Höflinge und Damen hinausdrängte. Der Magus griff zu einer Bronzeklinge. Ipiankhu zuckte zusammen und fragte sich erneut, ob dies wirklich die einzige, die beste Möglichkeit war. War der Mann überhaupt in der Lage, mit seiner verbundenen Hand zu operieren?
Cheftu nahm das Tablett in Augenschein. Lanzette, Bänder, Honig, Fett und drei weitere Klingen für alle Fälle. Eine davon für sein eigenes Herz, dachte er trocken. Sollte diese Operation nicht erfolgreich verlaufen, war er ein toter Mann. Vielleicht wäre es ja am besten so? Er sah auf, prüfte den Lichteinfall und bat dann darum, Pharao zu verlegen.
Senwosret, dachte er. Pharao aus der letzten Dynastie vor den Hyksos, in Frankreich unter dem Namen Sesostris bekannt. Was würde dieser Mann, dessen von Gram zerfurchtes Gesicht von seiner Angst um Ägypten zeugte, wohl empfinden, wenn er wüsste, dass seinem Volk jahrhundertelange Unterjochung bevorstand, bis Hatschepsuts Großvater Ahmose schließlich die Eindringlinge überwinden und den Thron besteigen würde?
Wäre er immer noch der Ansicht, dass die Nöte der vergangenen Überschwemmungen die Mühe lohnten? Oder würde er sich in seinen Palast zurückziehen und von den Feldern der einfachen Menschen schmarotzen, ohne sich um ihre Probleme zu kümmern? Es hatte weiß Gott schon genug Pharaonen gegeben, die so gehandelt hatten. Nein, von Senwosret würde Ägypten wie von einem Vater beschützt, auch wenn Pharao um die Zukunft des Roten und Schwarzen Landes gewusst hätte.
Cheftu beugte sich über den Mann und zwang sich, Pharao als ganz normalen Patienten zu betrachten. Er stand auf der Seite, sodass die Sonne direkt auf den Tisch fiel, und suchte nach dem besten Winkel. Auf Cheftus Anweisung hin hatte der Patient ungeheure
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