Die Seherin von Knossos
und Niko musste sich voller Scham eingestehen, dass er ihre Hand vollkommen übersehen hatte. Oder genauer gesagt den Stummel, wo eigentlich eine Hand sein sollte. Jetzt schlief sie ganz ruhig. Sie hatte die Infektion gut abgewehrt, und Niko hatte endlich das Gefühl gehabt, sie allein lassen zu können.
Was würde der Spiralenmeister wohl zu den Steinen sagen? Welche Geheimnisse würde dieser Gott ihnen beiden preisgeben? Niko trat ein, und Imhotep drehte sich zu ihm um. In den vergangenen Wochen war der Spiralenmeister um ein Dutzend Sommer gealtert. Der normalerweise so gepflegte Mann war in fleckiges Leinen gehüllt, und sein Gesicht war unrasiert. »Meister?«, meldete sich Niko fragend.
Spiralenmeisters Seite schien irgendwie verbogen, und Niko war erschüttert, wie langsam und unbeholfen sich der Mann bewegte. Niko atmete tief durch und verkündete dann: »Meister, ich habe die Steine gefunden.« Dann zog er aus jeder Seite seines Schurzes einen Stein.
Den Weißen.
Den Schwarzen.
Der Spiralenmeister besah sich einen nach dem anderen und rieb mit gichtigen Fingern über die eingekerbten Buchstaben.
»Weißt du, wie sie funktionieren?« Spiralenmeisters Worte kamen so undeutlich aus seinem Mund, dass Niko dreimal nachfragen musste, ehe er die Frage seines Mentors verstand.
Was in Apis’ Namen war geschehen?
»Ja.« Niko schüttelte zustimmend den Kopf. »Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass jedes Zeichen mit Gold ausgelegt ist, um das Licht einzufangen. Man muss eine Frage stellen, dann wird die Antwort buchstabiert.«
Er nahm an, dass Spiralenmeister die Alte Sprache verstand, auch wenn Niko sie einst von Daedalus gelernt hatte.
Imhotep sah die Steine an.
»Das Elixier«, murmelte er.
Niko warf die Steine. Kein Licht fing sich in den eingeritzten Buchstaben.
»Vielleicht muss die Frage anders gestellt werden«, schlug er vor.
Imhotep stützte sich am Tisch ab und murmelte etwas von seinem Elixier.
Niko war entsetzt, seinen Meister, das Oberhaupt seiner Sippe, so hilflos zu sehen. Was war vorgefallen? Was ging hier vor? Imhotep brüllte: »Elixier!«, und Niko warf die Steine. Wieder keine Antwort.
»Gibt es ein Elixier?«, fragte er.
Nichts. Vielleicht war die Frage nicht genau genug gestellt.
Sei präzise, dachte Niko.
»Gibt es ein Elixier für die Unsterblichkeit?«
Er warf die Steine und las stirnrunzelnd die Antwort, ehe ihm einfiel, dass er sie in die gewöhnliche Sprache übersetzen musste. Er sah zu Imhotep auf, das Gesicht starr vor Ungläubigkeit. »Es gibt ein Elixier«, sagte er.
»Zutaten«, brummelte Imhotep.
»Was sind die Zutaten?« Doch was nutzte diese Frage, wenn man die Alte Sprache nicht wörtlich und fließend verstand? Wie erwartet, gaben die Steine keine Antwort, sondern blieben stumm liegen.
Als jemand an die Tür klopfte, steckte Niko die Steine schnell weg. Ein Leibeigener setzte sie davon in Kenntnis, dass
ein weiterer aus Zelos’ Hekatai erkrankt sei.
Imhotep erbleichte, und Niko führte den Alten an sein Bett, erschrocken über die zerbrechlichen Knochen, die er unter Imhoteps Kleidung ertastete. Was war mit seinem Meister los? Der Spiralenmeister brabbelte aufgeregt vor sich hin, doch Niko verstand kein Wort von dem, was er sagte. Er legte die Steine in Reichweite Spiralmeisters ab, einen auf jede Seite des Bettes.
»Zutaten!«, kreischte der Alte.
»Frag die Steine, Meister. Ich weiß nicht, welche man braucht. Zweimal Klicken heißt nein, dreimal ja.«
»Woher weißt du das?«
»Das ist die Sprache, Meister. Drei Konsonanten und ein Vokal ergeben ein Ja, für das Nein braucht man nur zwei Konsonanten. Ihr müsst zählen, wie oft sie klicken, dann wisst ihr die Antwort.«
Auf Spiralmeisters Befehl, ihn allein zu lassen, schloss Niko die Tür.
Etwas stimmte nicht mit dem Alten; doch was es war, wussten nur die Götter.
Junger Seeigel, dachte Imhotep, während er den Schritten des Jungen auf der Treppe lauschte. Dies also war die großartige Hinterlassenschaft von Jawans Gott? Imhotep kniff die Augen zusammen und versuchte, die einzelnen Buchstaben auszumachen. Er bellte nach einem Leibeigenen, mehr Licht zu holen. Doch selbst mit einer Fackel dicht über seinem Kopf konnte Imhotep die heiligen Inschriften nicht entziffern.
Sollte er sie in Kelas Tempel bringen? Oder vielleicht in die Pyramide der Tage? Sein Geist war benebelt. Imhotep berührte die Glasphiole vor ihm. Eine Flüssigkeit schwappte darin herum, eine wichtige Flüssigkeit, doch
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