Die Sehnsucht der Falter
Zimmer. Als sie beim Abendessen am Tisch hinter mir saß, war sie mit Servieren dran und verbrachte damit so viel Zeit, dass sie sich erst kurz vor dem Abräumen an den Tisch setzte. Sie holte immer freiwillig Nachschub aus der Küche, wenn es etwas Leckeres gab. Dazwischen schob sie nur das Essen auf ihrem Teller herum. Ich beobachtete sie, bis ihre schwarzen Augen meinem Blick begegneten. Ich musste wegschauen. Natürlich nahm sie keinen Nachtisch, selbst wenn es Karamell-Cornflakes-Ringe mit Mokkaeis gab. Da kann eigentlich niemand widerstehen.
»Ach, Ernessa, diätest du etwa?«, hörte ich Mrs. Davenport einmal geziert fragen.
Sie braucht keine Diät. Sie hat einen wunderbaren Körper, fest, muskulös und kräftig, auch nicht zu dünn. Sie raucht wie ein Schlot. Nach dem Abendessen ist sie als Erste im Aufenthaltsraum und geht auch am Wochenende oft dorthin. Sie hat immer eine Zigarette im Mund. Sie inhaliert so tief, dass man meinen könnte, sie wollte die brennende Zigarette in sich hineinsaugen. Sie raucht wie ein Mann. Ich selbst kriege immer Rauch in die Augen und kann die Zigarette kaum zwischen den Fingern halten. So gern rauche ich auch gar nicht. Ich tue es, damit ich im Aufenthaltsraum rumhängen kann. Ich schnorre vielleicht eine Zigarette am Tag.
10. Oktober
Ich hätte nie gedacht, dass Lucy mir auf die Nerven gehen könnte.
Sie beschloss, dieses Wochenende in der Schule zu bleiben, und ich nahm an, wir würden gemeinsam etwas unternehmen. Als ich nach dem Frühstück in ihr Zimmer ging, war sie nicht da. Das Bett war gemacht, alle Türen waren geschlossen. Keiner wusste, wo sie steckte. Ich lief hinunter und schaute auf die Liste, in der wir uns austragen müssen. Lucy und Ernessa hatten sich beide um 7.30 Uhr ausgetragen. Sie kam erst kurz vor dem Abendessen wieder, und ich konnte erst mit ihr reden, als wir ins Bett gingen. Sie weicht mir aus.
Zuerst wollte sie mir nicht sagen, wo sie gewesen war. »Einfach draußen. Ich bin allein gegangen.« Ich bekam es dann aus ihr heraus, als ich sagte, ich wüsste, dass sie und Ernessa sich gemeinsam ausgetragen hätten. Vermutlich hätte ich das nicht sagen sollen. Sie sagte, sie seien den ganzen Tag ausgeritten. Als ich sie so weit hatte, dass sie es mir erzählte, war sie richtig wütend auf mich. Ich war niedergeschlagen, weil es mir vorkam, als hätte ich etwas aus ihr herausgequetscht, das sie mir eigentlich nicht hatte sagen wollen. Ich fragte sie, weshalb sie so viel Aufhebens darum gemacht habe. »Ich dachte, du wärst sauer, weil ich nicht gefragt habe, ob du mitkommen willst«, sagte sie. »Aber ich weiß doch, dass du nicht gerne reitest. Und das Wetter war so schön, dass ich einfach nicht widerstehen konnte. Es war fast wie im Sommer.«
Ich ging in mein Zimmer und schloss beide Türen hinter mir. Ich wollte sie nicht zuschlagen. Ich habe sie leise zugemacht. Damit sie merkte, dass ich nichts mit ihr zu tun haben wollte. Mir ist egal, wie sie ihre Zeit verbringt. Ich bin nicht ihre Aufpasserin.
»Ich weiß doch, dass du nicht gerne reitest.« Ich habe noch nie im Leben auf einem Pferd gesessen, das weiß Lucy genau. Ich habe Angst vor Tieren.
11. Oktober
Ich ging mit meinem Vater durch den botanischen Garten.
Es war ein strahlender Tag, aber windig und kalt trotz der Sonne, und ich schob meinen Arm unter seinen und schmiegte mich an ihn. Es war Frühlingsanfang. Die winzigen, vollkommen geformten Blätter entfalteten sich, und die Blütenknospen an den Bäumen waren noch grün. Ich dachte mir, wie soll ich es noch eine Woche aushalten, bis sich die Blumen öffnen und ihre Farben zeigen? Ich wusste genau, wo ich im Garten stand und welche Bäume ich anschaute: die Magnolien mit den dunklen, verschlungenen Ästen und den fetten, flaumigen Knospen, die aussahen wie Babyfäuste, die sich gerade öffnen und … nichts offenbaren.
Doch wie konnte ich, wenn ich neben meinem Vater stand und meinen Kopf auf seine Schulter gelegt hatte, gleichzeitig von fern zwei Menschen in dem Meer aus cremigen Magnolienblüten beobachten, die in den wenigen Sekunden, in denen ich weggeschaut hatte, plötzlich erschienen waren? Die ausgestreckte Hand meines Vaters deutete auf etwas. Er sprach dabei, aber ich konnte ihn nicht hören, weil er so weit weg war. Mein Vater trug seinen Mantel und die braune Wollmütze, die er immer aufhatte, aber ich hatte nicht meine eigenen Sachen an. Ich trug einen schwarzen Mantel und ein schwarzes Barett. Allmählich dämmerte
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