Die Sehnsucht der Falter
mir, dass es zwar mein Vater war, die andere Person aber nicht ich. An ihrem lässigen Gang konnte ich erkennen, dass es ein Mädchen und keine Frau war. Ein anderes Mädchen ging mit ihm durch den Garten.
Sie entfernten sich. Keiner drehte sich zu mir um. Ich konnte ihnen nicht folgen. Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren.
Ich hasse solche Träume. Wenn ich morgens aufwache, bin ich noch immer wütend und frustriert, weil ich im Traum nicht tun konnte, was ich tun musste.
12. Oktober
Heute Morgen beim Frühstück machte Claire eine pampige Bemerkung, weil ich angeblich so viel Zeit mit Mr. Davies verbringe. »Offensichtlich bist du in ihn verliebt.« Einfach absurd. Sie ist doch diejenige, die ihn ständig belagert und ihn am Wochenende zu Hause besuchen will, um seine Frau kennen zu lernen. Wen interessiert schon seine Frau? Es ist so schlimm geworden, dass ich mich geradezu für sie schäme. Ich spreche gern mit Mr. Davies über Bücher. Ich finde es aufregend, wenn ich etwas lese, das mir wirklich gefällt, und darüber kann ich mit niemandem sonst reden. Mit Ernessa habe ich nichts zu tun, und Dora hält mir ständig Vorträge. Was ich lese, kann unmöglich von Bedeutung sein. Sie belehrt Sofia noch immer über Philosophie. In Mr. Davies verliebt zu sein käme mir vor, als wäre ich in meinen Vater verhebt. Ich bin viel eher in jemanden wie Lucy verliebt – rein emotional.
13. Oktober
Charley ist außer Kontrolle. Sie will von der Schule fliegen, und das wird ihr wohl auch gelingen.
Gestern Abend haben sie und Carol einen Sessel aus Carols Fenster in den Hof geworfen. Der Lärm war unglaublich, als wäre der Sessel zu Boden gesogen worden und beim Aufprall explodiert. Mrs. Haltons Zimmer gehen auf den Hof hinaus, und sie hat es gehört. Sie kam über den Flur gelaufen und rief: »Mädchen, Mädchen, was ist passiert?«
Alle standen in der Tür von Carols Zimmer. Mrs. Halton ging rein, und Charley kreischte: »Wir konnten sie nicht aufhalten. Kiki ist zum Fenster gegangen, hat es aufgemacht und ist rausgesprungen. Sie schrie etwas von –«
Mrs. Halton wurde ohnmächtig, bevor sie das Fenster erreicht hatte. Sie klappte einfach zusammen. Das wollte ich schon immer mal sehen. Ich dachte, das gäbe es nur in Büchern. Beide bekamen zwei Wochen Nachsitzen. Charley war sauer. Es gibt schon einen Tadel, wenn man aus dem Fenster hinausschreit; was glaubt sie denn, womit sie rechnen muss, wenn sie einen Sessel aus dem Fenster schmeißt? Jetzt wird Charley von allen beobachtet. Bei der kleinsten Kleinigkeit fliegt sie. Und sie geht immer noch zum Joint rauchen in Ernessas Zimmer. Ist praktisch jeden Tag stoned. Ich begreife nicht, wie sie überhaupt noch funktionieren kann.
Sie isst auch wenig, vermutlich ahmt sie Ernessa nach. Warum sind alle so von ihr fasziniert? Lucy läuft ihr wie ein Hündchen hinterher. Alle versuchen, nichts zu essen, genau wie Ernessa. Charley geht auf ihr Zimmer und trinkt eine Cola light als Mittagessen. Das hält sie allerdings höchstens zwei Tage durch. Ich verstehe es nicht, weil sie sich nicht für Jungen interessiert und eigentlich auch nicht auf ihr Aussehen achtet. Andererseits sprachen Lucy und ich eben noch darüber, wie unheimlich sich Charleys Körper verändert. Sie war immer so dünn, und nun nimmt sie zu, wird füllig. Ich kann mich gar nicht daran gewöhnen. Wann immer ich sie ansehe, scheint etwas nicht zu stimmen. Sie hat weder Brüste noch Hüften; sie geht einfach in die Breite. Ich weiß noch, wie ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Sie war gerade aus den Ferien in die Schule zurückgekehrt und kam mit ihrer Mutter den Flur entlang. Ihre Mutter ist dick, mit runden, roten Wangen und grauen Löckchen. Ich konnte gar nicht glauben, dass dieses drahtige Mädchen ihre Tochter sein sollte. Vielleicht wird Charley am Ende wie ihre Mutter aussehen. Ihre Eltern haben eine Zeitbombe in sie gepflanzt, und niemand kann verhindern, dass sie hochgeht.
Ich möchte niemals älter aussehen als heute. Ich werde es einfach nicht zulassen. Wenn ich nach dem Tischdecken unten in der Halle aufs Abendessen warte, blättere ich die Brangwyn Echoes durch. Darin sehe ich seitenweise Fotos von Klassentreffen, von Frauen mit Kindern und Enkeln. Fette Matronen mit schwarzen Pumps (mit niedrigen, spießigen Absätzen) und passenden Handtaschen. Waren sie einmal wie wir? Sie haben dicke Beine, kurze, dauergewellte Haare, keine Taille und sackartige Kleider. Alle tragen die
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