Die Sehnsucht der Falter
obligatorische Perlenkette. Sie sind eine andere Spezies. Und es passiert so schnell, schon nach wenigen Jahren. Meine Mutter sieht nicht wie eine alte Frau aus. Sie ist noch immer so schön und schlank wie bei ihrer Hochzeit.
Letzten Herbst fiel mir eines Tages auf, dass mein Körper nicht mehr flach war. Ich geriet in Panik. Ich machte ein paar Wochen Diät und konnte nur an Essen denken. Sobald ich ans Nicht-Essen dachte, musste ich essen. Nach zwei Wochen sagte ich zu Lucy: »Ich halte es nicht mehr aus. Ich hasse Diäten.«
»Gott sei Dank«, meinte sie. »Du konntest ja von nichts anderem mehr reden. Ich war es leid, mir das anzuhören. Jetzt können wir am Wochenende wieder Honigbrötchen essen. Ich musste sie heimlich essen, während du auf Diät warst.«
Lucy und ich kaufen im Supermarkt gern tiefgefrorene Honigbrötchen und backen sie samstagnachmittags in der Küche zum Tee auf. Darauf freue ich mich die ganze Woche – dass wir einfach nur in der Küche sitzen und uns auf unsere Honigbrötchen konzentrieren. Wir reden wenig. Lucy braucht sich wirklich keine Sorgen um ihre Figur zu machen. Sie hat bis auf ihr komisches Bäuchlein kein Gramm Fett am Körper.
Ihr Bäuchlein erinnert mich an die Gemälde, die meine Mutter so mag. Eine Zeit lang hatte sie in ihrem Atelier nur Bücher über flämische Maler – Memling, David, Petrus Christus, Van Eyck. Deren Jungfrauen haben alle gerundete Bäuche wie Lucy, die unter ihren blauen Gewändern so gerade zu erkennen sind. Sie haben ein blasses Gesicht und glattes, blondes Haar und eine gewölbte Stirn. Ihre Haut hat noch nie die Sonne gesehen. Man erblickt sie nur durch ein Fenster in ihrem Zimmer. Die Welt ist fern, aber voller winziger Bäume und Büsche und felsiger Hügel und Burgen und weiter Felder mit Tieren und Bauern und Weizengarben, und dahinter liegen Wasser und Himmel und Wolken. So etwas kann man von der Residenz aus nicht sehen, nur Büsche, Bäume und Eisenzäune. Dahinter ist Schluss. Die Jungfrauen haben nicht mal hübsche Gesichter. Mir fällt nur das Wort rein dafür ein. Man kann sich nicht vorstellen, dass sie sprechen oder essen.
Ich war total überrascht, als Lucy das über meine Diät sagte. Ich konnte mich nicht erinnern, es auch nur mit einem Wort erwähnt zu haben. Es ist so dumm, wie besessen zu sein von dem, was man in den Mund steckt.
Rappaccinis Tochter. »›Mein Vater‹, sagte Beatrice schwach und legte noch im Sprechen die Hand aufs Herz, ›warum nur brachtet Ihr dies furchtbare Verhängnis über Euer Kind?‹«
Der Vater vergiftete seine Tochter allmählich, bis selbst ihr Atem tödlich war und ein frischer Blumenstrauß in ihrer Hand verwelkte. Doch war ihre Seele auch verdorben?
14. Oktober
Heute haben Lucy und ich die gesamte Ruhezeit damit verbracht, nach dem goldenen Kreuz zu suchen, das sie immer um den Hals trägt. Sie hat keine Ahnung, wo es geblieben ist. Sie zieht es nur zum Schwimmen aus, dabei war sie den ganzen Herbst nicht schwimmen. Sie hat Angst, ihr Vater könnte toben, weil er es ihr zur Konfirmation geschenkt hat. Wir stellten alles auf den Kopf.
Obwohl mir bei Kreuzen unbehaglich wird, wirkt Lucy ohne ihr Kreuz irgendwie nackt. Ich habe es immer an ihrem Hals gesehen, es ruhte in der rosigen Mulde zwischen ihren Schlüsselbeinen. Mir fiel sofort auf, dass es weg war. Ein Teil von ihr ist verschwunden.
Wir beschlossen, dass sie sich ein neues kaufen wird, falls sie es nicht findet. Notfalls leihe ich ihr das Geld. Ich habe keine Ahnung, wie viel ein Goldkreuz kostet.
Ich habe eine ganze Stunde damit vergeudet, Lucy zu helfen, dabei schreibe ich morgen eine gewaltige Mathearbeit, aber egal. Wir hatten schon so lange nichts unternommen. Es hat Spaß gemacht.
15. Oktober
Ich habe ein Zimmer mit Lucy und Mr. Davies in Englisch und Griechisch bei Miss Norris und Klavierunterricht bei Miss Simpson, und ich habe Sofia und viele Freundinnen …
16. Oktober
Früher habe ich den Herbst geliebt. Aber der Herbst weiß nicht, ob er leben oder sterben will, wieder geboren werden oder verdorren.
Früher wollte ich so gerne glücklich und normal und sorglos sein wie Lucy. Sonst nichts. Ich dachte, ich könnte werden wie sie, wenn ich ihr nahe wäre. Es hat damit zu tun, dass man Dinge einfach geschehen lässt, ohne darüber nachzudenken, dass man genau das ist, was man ist, nicht mehr. Die Dinge fließen über einen dahin wie eine Welle, die sich über deinem Kopf bricht, und du verirrst dich unter
Weitere Kostenlose Bücher