Die Sehnsucht der Falter
Tür auf und sah Sofia auf dem Boden sitzen, ein Riesenglas Honig zwischen den Beinen. Sie langte mit einem Löffel hinein, doch als sie mich hörte, ließ sie ihn vor Schreck ins Glas fallen. Er sank durch den dicken goldbraunen Inhalt und blieb ans Glas gelehnt stehen wie ein Tier im Bernstein.
»’tschuldigung«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Was ist das?«
»Eine neue Diät«, sagte sie treuherzig.
»Honig als Diät?«
»Na ja, es ist eine abgewandelte Diät. Wie die, die Lion macht. Man isst vor jeder Mahlzeit eine Grapefruit, damit man nicht so hungrig ist.«
»Verstehe.«
»Ich esse die Zitronen und Grapefruits mit Honig, weil sie so sauer sind. Und manchmal auch nur den Honig.«
»Ich habe dich beim Mittagessen gesucht«, sagte ich.
»Ich wollte nicht in Versuchung geraten.«
»Ich kaufe dir ein paar Schokoladenschildkröten ab, die können dich dann nicht mehr in Versuchung fuhren.«
»Ich hab keine mehr. Deshalb mache ich ja Diät.«
Ich starrte sie an.
»Nicht alle. Aber die meisten. Es ging so: fünfzig Cent in die Kasse, Schildkröte essen, fünfzig Cent in die Kasse, Schildkröte essen, fünfzig Cent in die Kasse.«
Ich musste lachen. So habe ich schon ewig nicht mehr gelacht. Ich musste aufhören, weil mir der Bauch wehtat. Ich liebe Sofia. Niemand kann mich so zum Lachen bringen.
»Du kannst auch was Honig haben. Falls ich den verdammten Löffel wieder herausbekomme.«
»Nein, danke«, sagte ich. »Warum macht Lion eine Diät? Sie hat nicht mal einen Arsch. Er ist total flach.«
Lion heißt so, weil sie eine Löwenmähne hat. Ihr hellbraunes Haar ist unglaublich dick und steht nach allen Richtungen ab. Ihr Körper sieht ganz seltsam aus. Nichts passt zusammen, die Teile scheinen von verschiedenen Menschen zu stammen: flacher Arsch, Hängebusen, Speckrollen am Bauch, dünne Unterschenkel und magere Knöchel.
»Das kommt, weil sie ein Jahr lang auf dem Rücken liegen musste, sie hatte Penicillin nicht vertragen. Sie mag ihre Titten nicht, die hängen so. Und ihr Bauch wäre zu fett.«
»Keine Diät der Welt wird ihre Titten verändern. Die sind einfach so.«
Sofia glaubt mir nicht. Sie meint, eine Diät könnte einen Menschen verwandeln. Aber in zwei Tagen kommt sie wieder zum Mittagessen, also ist es ohnehin egal.
29. Oktober
Als ich auf die Schule kam, waren alle nett zu mir, doch ich wusste, dass sie hinter meinem Rücken über mich redeten. Das hätte ich auch getan. Man kommt nur dann mitten im Jahr auf die Schule, wenn etwas passiert ist.
Ich wollte wie das Mädchen im Zimmer gegenüber sein, doch man ließ mich nicht. Ihr Zimmer war hellblau gestrichen, auf dem Boden lag ein dunkelgrüner Teppich. Tagsüber stand die Tür weit offen. Das Tageslicht strömte ins Zimmer. Ich konnte sehen, wie die weißen Strahlen auf dem Boden in einem Teich zusammenflossen. Sie waren wie die dünnen Lichtpfeile, die durchs Fenster der Jungfrau Maria fielen, um von der Ankunft des Erzengels Gabriel zu künden.
Wenn ich am Schreibtisch saß, konnte ich den großen Berg Stofftiere vor dem Fenster sehen. Ich hatte nichts Derartiges mit in die Schule gebracht. Ich hatte keine Ahnung, was ich hätte gebrauchen können. Ich rechnete nicht damit, lange hier zu bleiben. Mein Zimmer war kahl und dunkel. Der Holzboden fleckig und uneben. Die Sonne fiel von der anderen Seite ins Gebäude. Mein Fenster war nur ein helles Rechteck, das nichts erleuchtete. Das hellblaue Zimmer war voller Dinge: Familienfotos, Parfümflaschen und Puderdosen, Schmuck, Schreibpapier, Stifte und Briefmarken, Schallplatten, Kissen, und auf dem Bett lagen noch mehr Stofftiere. Alle Oberflächen waren mit Puder bestäubt. Ich träumte davon, mich mit dem Mädchen mit dem langen blonden Haar und dem hübschen Gesicht, das in diesem Zimmer wohnte, anzufreunden, dem Mädchen, das ein Goldkreuz um den Hals trug. Ich träumte davon, das Wochenende bei ihr zu Hause zu verbringen, in einem schönen Haus, das genauso aussah wie ihr Zimmer.
Ich freundete mich mit Lucy, dem Mädchen aus dem blauen Zimmer, an, und zuerst war es noch wie ein Traum. Doch nach einer Weile erschien es mir unvermeidlich.
Als Lucy mich das erste Mal dabeihaben wollte, als sie im Bad am Endes des Flurs in einer der riesigen Wannen mit den Klauenfüßen badete, hatte ich große Angst. Aber wie sollte ich nein sagen? Wenn ich nun etwas falsch machte? Wenn ich nun nervös wurde und lachte, wenn sie sich auszog oder nackt in der Wanne ausstreckte?
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