Die Sehnsucht der Falter
Mutter liebt, ausgenommen Lucy. Meine Mutter und ich sind wie Treibholz, das sich mit dem Wogen des Ozeans hebt und senkt. Ich fürchte immer, davonzutreiben und sie zu verlieren. Mein Vater war Dichter, meine Mutter ist Künstlerin. Bei uns war nichts jemals normal. Selbstmord ist nicht normal.
Ernessa würde darüber spotten. Normale Dinge interessieren sie nicht.
November
1. November
Träume langweilen mich. Fremde Träume noch mehr. Ich kann es nicht ertragen, wenn Leute ausführlich von ihren langweiligen Träumen erzählen. Ich schreibe den Traum von letzter Nacht nur auf, weil ich nicht genau weiß, ob es ein Traum war. Alles sah genauso aus, als ob ich wach wäre. Wenn ich träume, weiß ich meistens, dass es nur ein Traum ist. Aber das hier war realer als mein Leben. Ich schlief, meine Oberlippe schwoll an, und mein Mund war plötzlich ganz trocken. Meine Zunge lag dick im Mund. Sie gehörte nicht mehr dorthin. Ich stand auf, meine Beine waren steif wie Holz. Bald würde ich mich gar nicht mehr bewegen können. Ich erkannte das Gefühl. Ich würde sterben. Ich ging in Lucys Zimmer und bat sie, mir zu helfen. Sie saß im Sessel, das Gesicht zum Fenster und drehte sich um, als sie meine Stimme hörte. Sie lächelte reizend, sagte aber nichts. Hinter ihrem unbewegten Blick lag eine gewisse Härte. Selbst wenn ich starb, würde sie dieses leere, blaue Lächeln zeigen. Ich wachte auf und saß wieder in meinem Zimmer auf der Bettkante. Zuerst ging es mir gut, ich war erleichtert, dass es nur ein Traum gewesen war, doch dann stieg eine bleierne Schwere heiß in meinen Beinen hoch. Ich bückte mich, um die Schuhe auszuziehen. Meine Socken waren schweißnass, ich musste sie geradezu abschälen. Meine Füße waren dick und geschwollen und mit blauen Flecken übersät. Sie sahen aus wie Blaubeerpfannkuchen, bei denen die Beeren im Teig geplatzt sind.
Ich wollte mich aus dem Traum hinauskämpfen; er wollte mich nicht loslassen. Immer wenn ich erwachte, fand ich mich in einem neuen Traum wieder. Ich taumelte aus dem Bett ins Badezimmer. Mein Mund war ausgedörrt, meine Lippen waren angeschwollen wie in dem Traum. Das Wasser blieb mir im Hals stecken.
Danach hatte ich Angst, wieder schlafen zu gehen. Nach diesem Traum werde ich Lucy mit anderen Augen sehen. Ich weiß jetzt, wie hart und gefühllos sie hinter ihrem faden Lächeln sein kann. Sie ist schon immer so gewesen.
Nach dem Abendessen Es ist spät am Sonntagabend, und ich muss noch Schuhe putzen. Das schiebe ich immer vor mir her. Lucy hat die Schuhcreme. Ich bin ihr ausgewichen.
Seit Wochen habe ich keine Schuhe mehr geputzt. Darum wollten Lucy und ich dieses Jahr auch braune Oxford-Schuhe – die muss man nicht jede Woche putzen. Oxfords sehen aus wie Gesundheitsschuhe, die hellen Straßenschuhe dafür nach Krankenhaus (auf der Dose mit der weißen Schuhcreme ist sogar eine Krankenschwester abgebildet). Lieber wie ein Krüppel aussehen als wie eine Krankenschwester. Außerdem werden die Hellen so schnell schmutzig. Letztes Jahr habe ich eine Menge Tadel wegen schmutziger Schuhe bekommen. Ich musste fast jeden Freitag nachsitzen. Miss Bobbie steht montags morgens an der Tür zum Schulsaal, die Hände in die Hüften gestützt, und starrt auf den Boden. Sie prüft jeden Schuh, der durch die Tür kommt. Dieses Jahr habe ich keinen einzigen Tadel bekommen. Unsere Oxfords sind wie Budapester mit einer Lederlasche über den Schnürsenkeln. Sie sehen aus wie Golfschuhe. So klobig, dass ich sie schon beinahe gut finde. Leider sind sie schwer und müssen lange eingelaufen werden.
Ich kann es nicht glauben. Ich bin gerade in Lucys Zimmer gegangen, um die Schuhcreme zu holen. Lucy saß am Schreibtisch und verteilte weiße Schuhcreme auf einem Paar heller Straßenschuhe.
»Was machst du da?«
Sie war total verlegen, doch was blieb ihr übrig? Die Schuhe waren mit klebriger Schuhcreme bedeckt, sie konnte sie unmöglich verstecken.
»Ich putze Schuhe.«
»Wessen Schuhe?«
»Ernessas. Sie weiß nicht, wie es geht. Ich habe gesagt, ich würde es für sie machen. Sie hat schon so viele Tadel bekommen.«
»Schuhe putzen ist kein angeborenes Talent. Ich bin sicher, sie könnte es lernen.«
»Sie hat so etwas noch nie gemacht.«
Ich wollte Lucy anschreien, bin aber einfach in mein Zimmer gegangen und habe die Tür zugemacht. Ich habe gar nicht erst nach der Schuhcreme gefragt. Soll Miss Bobbie mir morgen ruhig einen Tadel verpassen.
Ich werde die Tür
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