Die Sehnsucht der Falter
Wenn ich zu ernst blieb und gar nicht lachen konnte? Wenn sie zu dem Schluss kam, dass sie mich doch nicht mochte? Wenn ich ihr nur Leid tat? Ich war es nicht gewöhnt, so mit anderen zusammen zu sein.
Nach einer Woche badeten wir zusammen, frühstückten zusammen, gingen nach dem Mittagessen zusammen nach oben, verbrachten die Wochenenden zusammen. Alle verknüpften unsere Namen; sie gehörten zusammen wie ein Reim.
Ich muss los. Zeit zum Abendessen. Es hat gerade zum zweiten Mal geläutet, und ich bin noch nicht umgezogen. Ich muss etwas Sauberes im Kleiderschrank auftreiben. Nach dem Essen schreibe ich weiter.
Nach dem Abendessen Das hat ein anderer Mensch erlebt, ein bemitleidenswertes Mädchen, das in den dunklen Ecken seines Zimmers verschwinden wollte.
30. Oktober
Ich war in Lucys Zimmer und wartete, dass sie aus dem Bad kam. Die Tür zum Bad stand offen, und ich lag auf ihrem Bett und las Carmilla für Englisch. Es geht um eine Frau namens Carmilla, die unter mysteriösen Umständen in eine steiermärkische Burg gelangt (wo immer die Steiermark auch ist oder gewesen sein mag, falls sie überhaupt existiert). Eine junge Engländerin, die mit ihrem Vater in der Burg lebt, gerät in Carmillas Bann. Im Grunde liebt und verabscheut sie sie gleichermaßen, kann ihr aber nicht widerstehen. Zuerst fand ich die Geschichte zu konstruiert, aber das liegt nur am Stil. Bald war ich fasziniert und konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Nachdem ich begriffen hatte, dass Carmilla ein Vampir war, passte alles zusammen. Es gab einfach keine andere Erklärung.
Lucy kam in ein Handtuch gewickelt aus dem Bad. Ich schaute von meinem Buch auf. Ihre Haut war so rosig und sauber. Ihre blauen Augen blickten jedoch überrascht. Ernessa stand nämlich in der Zimmertür, der süße Puderduft aus dem dampfenden Bad hing schon in der Luft, und einen Moment lang sah sie aus wie ein Tier. Erstarrt.
Lucy war nicht direkt verlegen, obwohl sie nackt war und das Handtuch sie nicht ganz bedeckte. Es gibt ohnehin nicht viel zu sehen. Sie sieht noch immer wie ein kleines Mädchen aus. Kaum Titten oder Arsch. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und Ernessa rührte sich nicht.
Ich weiß noch, wie glücklich ich war, weil ich das Mädchen aus dem hellblauen Zimmer zur Freundin hatte. Doch Ernessa kam einfach herein, ohne anzuklopfen, und Lucy hatte nichts dagegen. Wir waren immer abends hier so zusammen, wenn sich die anderen Mädchen in ihren Zimmern bettfertig machten. Ich will nicht darauf verzichten. Ernessa hatte keinen Grund, ins Zimmer zu kommen. Sie beugte sich über mein Buch, zuckte die Achseln, setzte sich kommentarlos in Lucys Sessel und fragte sie nach ihrem Deutschunterricht.
Dann sagte Ernessa plötzlich: »Deine Haut ist knallrot vom Baden. Wie kannst du so heißes Wasser ertragen?«
»Es ist entspannend«, meinte ich vom Bett. »Wir nehmen vor dem Schlafengehen immer ein heißes Bad.«
Ernessa beachtete mich nicht und wandte sich wieder den Deutschaufgaben zu.
Lucy sah mich die ganze Zeit an. Nicht Ernessa, sondern ich bereitete ihr Unbehagen. Ernessa tat, als passte sie auf Lucy auf, und Lucy hatte überhaupt nichts dagegen. Ich wusste, sie wollte mit Ernessa allein sein, aber ich wollte nicht gehen.
Warum passiert mir so etwas?
31. Oktober
Ich wollte einfach nur nicht zu klug, nicht zu sensibel, nicht zu schön sein, von nichts zu viel besitzen. Normal sein. Aber hier ist niemand normal, nicht mal Lucy. Es gibt immer ein Problem, ein Geheimnis, selbst bei denen, die nur deshalb hier sind, weil seit fünfzig Jahren alle Mädchen aus ihrer Familie diese Schule besucht haben. Warum sonst sollte man hier sein, eingesperrt in ein Schloss mit Giebelfenstern, schrägen Dächern, hohen roten Schornsteinen und Kupferverzierungen? Es kommt immer heraus. Alle haben etwas, das ihnen peinlich ist. Heimliche Liebesaffären, Schnapsflaschen im Kleiderschrank, den Hass ihrer Stiefeltern. Tod. Charleys Mutter ist Alkoholikerin. Sofias Eltern sind geschieden und hassen einander. Ihr Vater lebt in Italien. Doras Eltern verbringen ein Sabbatjahr in Paris, aber sie versteht sich nicht mit ihrem Vater und will deshalb im Internat wohnen. Claire streitet mit ihrem Stiefvater, den sie als rassistisches Schwein bezeichnet. In der Klasse unter uns ist ein Mädchen namens Alison, deren Eltern bei einem Autounfall gestorben sind. Ein brennendes Wrack. Und so weiter. Und so weiter. Vermutlich bin ich in der Schule die Einzige, die ihre
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