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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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zulassen. Lucy spielt ständig ihre Cat-Stevens-Platten. Ich höre dauernd den Text dieses blöden Liedes, in dem jemand von einem Mondschatten verfolgt wird. Mich verfolgt dieses Lied. Die Nadel bleibt bei dem Wort hängen, und jetzt hängt es in meinem Kopf. Bei dieser Musik kann ich mich nicht auf meine Hausaufgaben konzentrieren.
    Lucy scheint nicht mehr Lucy zu sein.
2. November
Arbeitsstunde
    Ich lag auf dem Bett, mir fielen die Augen zu. Ich konnte sie einfach nicht mehr offen halten. Plötzlich erklang im Flur ein schriller Schrei. Ich sprang aus dem Bett und lief zur Tür. Alle schauten aus ihren Zimmern. Nur Ernessas Tür war zu. Mitten im Flur stand Beth, schrie und umklammerte ihr Handgelenk. Zuerst kapierte niemand, was los war. Beth reagierte nicht auf unsere Fragen. Dann hob sie den Arm, und ein widerliches Blutrinnsal sickerte zum Ellbogen hinunter.
    »Ich sterbe!«, schrie sie. »Ich sterbe!«
    Wir standen alle in den Türen unserer Zimmer und starrten sie an. Niemand half ihr. Schließlich kam Mrs. Halton aus ihrem Zimmer und zerrte Beth zur Krankenstation. Sie war wütend. Vermutlich hatte Beth sie beim Fernsehen gestört.
    »Ich weiß gar nicht, warum sie so schreit«, meinte Kiki. »Natürlich blutet es, wenn man sich mit einem Rasiermesser schneidet.«
    Gewöhnlich ist Beth eine graue Maus. Sie fällt gar nicht auf. Keine Ahnung, wie sie auf unserem Flur gelandet ist. Aber sie hatte eine gute Zahl gezogen und wollte ein Einzelzimmer, also suchte sie sich das neben Charley aus. Sofia wollte mit ihr tauschen, doch sie weigerte sich.
    Es gibt auch weniger schmerzhafte Methoden, Aufmerksamkeit zu erregen. Wegen dieser Sache werden wir noch lange kein Mitleid mit ihr haben oder uns mit ihr anfreunden.
    Mädchen sagen dauernd Dinge wie: »Ich bin so unglücklich, ich nehme eine Überdosis Aspirin«, doch wenn es ihnen gelänge, wären sie ganz schön überrascht. Sie haben gar nicht vor zu sterben. Sobald sie Blut sehen, geraten sie in Panik.
    Beth hat mich sinnlos gestört. Ich liebe den Augenblick, in dem man gegen den Schlaf kämpft, die Lider nur noch mühsam hebt und dann ganz leicht in eine andere Welt gleitet, die einen herbeiwinkt. Jetzt bin ich hellwach.
3. November
    Wer ist Carmilla? Dunkel, deprimiert, todessüchtig.
    »Sie hieß Carmilla.«
    »Ihre Familie war sehr alt und von Adel.«
    »Ihre Heimat lag irgendwo im Westen.«
    Wer ist Ernessa?
4. November
    Die Eltern meiner Mutter waren orthodox. Meine Mutter fand es furchtbar, dass sie am Schabbat nicht Auto fahren und kein Licht einschalten durfte. Es war ihr egal, ob sie Schweinefleisch aß oder Fleisch und Milchprodukte zusammen. Sie sagt, sie empfinde sich nicht mehr als Jüdin, obwohl sie noch jedes Gebet aufsagen kann. Manchmal wünsche ich, ich würde all diese Gebete kennen.
    Bei meiner ersten Schulversammlung nahm ich wie die anderen Mädchen das rote Gesangbuch aus dem kleinen Fach im Stuhl vor mir und schlug die Seite auf, die Miss Rood genannt hatte. Doch als die Musik erklang und alle aufstanden, um das Kirchenlied zu singen, war ich so verlegen, dass ich kaum vom Stuhl hochkam. Sollte ich ein christliches Kirchenlied mitsingen? Würde ich bestraft, wenn ich mich weigerte? Würde ich bestraft, wenn ich mitsang? Warum hatte meine Mutter mich hergeschickt? Ich sah mich um, alle hatten ihre Gesangbücher aufgeschlagen und sangen mit, selbst die Mädchen, die sich für cool hielten. Ich bewegte lautlos die Lippen. An diesem Abend rief ich meine Mutter an und fragte sie, was ich tun solle. Sie lachte mich aus und sagte, ich solle tun, was mir am angenehmsten sei. Aber ich muss es wissen. Es ist mir wichtig. Manchmal murmele ich die Wörter, manchmal singe ich, manchmal bewege ich die Lippen, manchmal mache ich gar nichts. Ich weiß noch nicht, was am besten ist.
    Ernessa versteht das. Als wir heute in der Versammlung singen sollten, wurde sie rot. Sie umklammerte den Stuhl vor sich so fest, dass ihre Knöchel fast herausgesprungen wären. Das dunkle Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie schaute unverwandt auf ihre Füße. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, das Gesangbuch zu nehmen und so zu tun, als ob. Ich hatte meins geöffnet, sah aber zu Ernessa hinüber, die zwei Reihen vor mir weiter rechts stand. Sie wandte sich ein wenig um, gerade so weit, dass ich merkte, dass sie nicht litt; sie grinste breit. Hatte sie mir über die Schulter geschaut, als ich Carmilla las?
    Natürlich sitzt Lucy neben Ernessa, das Glück des

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