Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
Vom Netzwerk:
über dies und jenes, wie wir es immer tun, wenn wir uns mit Pommes voll stopfen. Plötzlich meinte Sarah Fisher: »Ich vermisse meine Mutter so sehr. Genau jetzt. Nach der Schule habe ich mich immer auf die Arbeitsplatte in der Küche gelegt, an die Decke geguckt, und mit meiner Mutter erzählt und was geknabbert, während sie kochte.«
    Keiner sagte etwas. Wir dachten an ihre tote Mutter und waren verlegen. Ich am allermeisten. Ich wollte weinen, doch Sarah selbst weinte nicht.
    Ich kann kein Wort sagen.
    Jedes Jahr glaube ich, es würde einfacher, weil ich ihm, dem lebenden Menschen, entwachsen bin. Ich gerate nicht mehr in Panik wie früher, als ich mich derart an meine Erinnerungen klammerte, dass ich nicht mehr atmen konnte. Jetzt will ich ihn nur als Toten kennen. Allmählich kommt es mir vor, als wäre er schon immer tot gewesen.
    Lucy hat nichts gemerkt. Die reizende, falsche Lucy. Dies war ihre Probe, und sie hat elend versagt. Ich wusste es. Sie tut, als wäre alles beim Alten, doch unsere ganzen privaten Rituale gibt es nicht mehr – Ruhezeit, gemeinsame Mahlzeiten, Schlafengehen. Ich wusste immer, wo sie war, als hätte uns ein unsichtbares Band verknüpft. Sie hat einen Kreis um sich gezogen und mich hinausgestoßen.
12. November
    Wieder habe ich ein Jahr ohne ihn überlebt.
    Lucy entschuldigte sich, weil sie nicht an meine Gefühle gedacht hatte. Sofia muss mit ihr gesprochen haben. Mir ist es egal. Ich bin viel glücklicher.
    Zum ersten Mal seit Wochen habe ich Klavier geübt. Ich habe nicht gespielt, obwohl ich Miss Simpson ungern mit schlechten Leistungen enttäusche. Ich spiele Chopins Nocturne Nr. 11 in g-moll, Bachs Präludium Nr. 4 und eine neue Mozartsonate, Nr. 7 in G-Dur. Die Sonate ist sehr lang – zwanzig Seiten Partitur. Aber nicht so furchtbar schwer. Ich liebe das Klavierspielen. Ich verstehe gar nicht, weshalb ich das Klavier zwei Wochen lang nicht angerührt habe.
    Vielleicht liegt es daran, dass ich die Proberäume im Untergeschoss der Residenz nicht mag. Ansonsten kann man nur in der Eingangshalle neben der Rezeption spielen. Ich bin beim Spielen gern allein, aber die Räume sind feucht und kalt. Meine Finger werden steif, und die Tasten klemmen. Man muss sie beim Spielen mit dem kleinen Finger hochziehen. Auch stört mich der Geruch dort unten. Er ist viel schlimmer geworden. Manchmal muss ich fast würgen. Ich habe den Hausmeister gefragt, ob Wasser im Keller stünde, und er sagte nein, das nicht, aber ein paar Mädchen müssten da eingedrungen sein und eine Riesenschweinerei veranstaltet haben. Alles sei verdreckt gewesen. Auch tote Ratten und ein totes Eichhörnchen habe er gefunden. Daher der verflixte Geruch. Jedenfalls habe er den ganzen Keller sauber gemacht.
    »Ihr dürf da nisch runter, salles voll Ungeziefer. Schab Fallen und Gift ausgelegt. Sagsdein Freundinn’.«
    Ich komme mit seiner Sprache nicht klar. Ich werde immer verlegen, wenn ich mit ihm rede, weil ich nur die Hälfte verstehe. Ich muss immer »Was? Wie?« fragen. Bevor Mr. Davies kam, war er der einzige Mann in der Schule. (Außer Bob, und den sieht man nur, wenn man nachts in die Küche schleicht.) Vermutlich bin ich die Einzige, die je mit ihm geredet hat. Die anderen betrachten ihn nicht als Menschen, sondern nur als Hausmeister. Sie fürchten sich ein bisschen vor ihm – nicht weil er ein Mann ist, sondern weil er schwarz ist, mit krausen Haaren.
    Ich würde keinen Fuß dort unten hineinsetzen.
13. November (Freitag)
    Heute gab es in Englisch zur Abwechslung eine interessante Diskussion. Weil Freitag der Dreizehnte ist? Eigentlich entwickelte sie sich zu einem Dialog zwischen Mr. Davies und mir, da die anderen aus Langeweile gar nicht zuhörten. Sie gaben sich damit zufrieden, zu tuscheln und Zettelchen weiterzureichen. Claire starrte bloß Mr. Davies an. Nach dem Unterricht wartete sie im Flur auf mich. Sie fing wieder an mit: »Du beanspruchst Mr. Davies’ ganze Aufmerksamkeit.
    Außer dir kommt niemand zu Wort.«
    Ich ließ sie einfach stehen. Was für eine Idiotin. Niemand hindert sie daran, im Unterricht etwas zu sagen. Hätte sie gelesen, statt mit Ernessa und Charley Dope zu rauchen und von Sex mit Mr. Davies zu träumen, hätte sie vielleicht auch was zu sagen.
    Mr. Davies fragte zunächst, ob wir die Figur der Carmilla überzeugend fänden. »Erfüllt sie euch mit Furcht und Faszination?«
    Alle Mädchen lachten laut. Mr. Davies wurde ganz rot.
    Warum fragt er sie überhaupt? Sie

Weitere Kostenlose Bücher