Die Sehnsucht der Falter
müssen. Schluss mit den nächtlichen Streifzügen mit Dora und Charley. Wenn ich lange aufbleiben muss, kann ich am Wochenende ausschlafen. Ich bleibe ungern lange auf und zwinge mich zur Arbeit, wenn mir eigentlich die Augen zufallen. Obwohl Dora angeblich so intellektuell ist, tut sie nicht viel für die Schule. Charley ist sowieso alles scheißegal. Sagt sie selbst. Ich bin froh, dass ich etwas zu tun habe. Ich werde mich jetzt zum Lesen zwingen.
11. Dezember
Heute Morgen schob Sofia einen Zettel unter meiner Tür durch: »Ich sehe dich gar nicht mehr. Du bist immer nur mit Charley und Dora zusammen. Ich bin traurig.«
Ich fühlte mich schrecklich, aber es geht nicht anders. Mit ihnen kann ich über Ernessa reden. Manchmal will ich über nichts anderes reden und an nichts anderes denken. Ich bin auch nicht mehr bei Mr. Davies gewesen. Ich wette, Claire freut sich.
Ich will Sofia nicht hineinziehen.
Beim Mittagessen stellte ich mich hinter sie, umarmte und küsste sie. Wir haben vor, am Samstag zusammen in die Stadt zu fahren. Wir wollen ins Museum und Mittag essen gehen. Eigentlich müsste ich mich darauf freuen. Sie ist eine meiner besten Freundinnen. Meine liebste Freundin. Aber ich muss mich zwingen, ihr zuzuhören.
Mit meiner Französischarbeit ist es ganz gut gelaufen. Immerhin hatte ich den Lesestoff von zwei Wochen in einer einzigen Nacht abgehakt, die Erinnerung war also noch frisch. Das Buch ist wie ein schöner, verwirrender Traum.
Die Kindheit – selbst eine traurige Kindheit – ist letztlich ein Ort, von dem wir glauben, wir hätten ihn geträumt oder wären zufällig auf ihn gestoßen. Wir wollen ihn wieder finden, doch es gelingt uns nicht. Darüber sollte ich schreiben, nichts über das Zeug, das Mr. Davies uns aufgegeben hat. Vielleicht später, wenn ich mehr Zeit habe und wieder klar denken kann. Ich versuche, das Buch in den Weihnachtsferien durchzulesen.
Sredni Vashtar. Das Kind teilte seine freudlose Kindheit mit Phantomen und wilden Tieren, und ein Gott erhörte seine grausamen Gebete.
12. Dezember
Im Zug in die Stadt habe ich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit gelacht. Sofia erzählte mir, wie es ihr im letzten Jahr gelungen war, ihren Freund in der Stadt zu besuchen, ohne jemanden anzulügen. Sie trug sich für den Tag aus, und wenn sie zurückkam, schaute Miss Olivo sie an, wobei sie gefährlich den Kopf wiegte, und fragte, wo sie gewesen sei. Sofia sagte dann immer: »Ich habe mir das Museum angesehen.« Der Zug fährt nämlich am Museum vorbei, das wie ein griechischer Tempel über dem Fluss aufragt, und sie schaute immer aus dem Fenster und sah sich jedes Mal im Vorbeifahren das Museum an. »So war es nicht gelogen«, sagte Sofia. »Miss Olivo muss gedacht haben, ich wäre wirklich kunstinteressiert, da ich mir praktisch jedes Wochenende das Museum angesehen habe.«
Sofia ist ein Mensch, der überall Jungen kennen lernt: auf Bahnhöfen, in Restaurants … Ihr Freund war im zweiten Collegejahr. Insgeheim war ich neidisch, wenn sie von ihm erzählte. Ihre Beziehung kam mir so erwachsen vor. Sie saß die meiste Zeit auf seinem Schoß. Er wollte sie überreden, mit ihm zu schlafen, und sie wollte sich nicht überreden lassen. Letztlich hatte sie zu viel Angst, und er war es leid, auf sie einzureden.
Nachdem Sofia und ich etwa eine Stunde im Museum gewesen waren, fühlte ich mich ruhig wie schon lange nicht mehr. Plötzlich dachte ich an gar nichts. Die Ruhe in meinem Kopf zeigte mir, wie sehr ich mich schon an das lärmende Denken gewöhnt habe.
Am Ende ging ich noch zur Garderobe im Erdgeschoss, wo ein Gemälde von meiner Mutter hängt. Seit Thanksgiving war ich so wütend auf sie, doch als ich ihr Bild sah, verging meine Wut. Wenn sie nur diesen Teil ihrer selbst wieder finden könnte. Das Bild ist so schön. Irgendwie abstrakt, aber mit den beiden Elementen, die auf ihren Bildern immer wieder auftauchen: eine Eule vor einem silbrig gelben Himmel und ein Boot auf einem leuchtend roten Fluss. Ich weiß nicht genau, was sie bedeuten. Manchmal ist die Eule ein Vogel, und manchmal sitzt ein Eulenkopf auf einer menschlichen Gestalt, deren Körper mit dem Himmel verschmilzt wie die Engel ohne Füße auf alten italienischen Gemälden. Manchmal ist das Boot leer. Manchmal paddelt ein Mensch mit den Händen. Ich weiß, was mein Vater immer an ihr geliebt hat, selbst ganz am Ende, als er die Liebe praktisch vergessen hatte. Sie war für ihn wie die Luna-Motte, und das konnte er
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