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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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einander verwundert an. Ich war hellwach. Meine Augen waren offen. Doch ich war gelähmt wie in einem Traum.
    Ich stand erst nach dem letzten Klingeln auf. Das Abendessen wurde bereits aufgetragen. Ich hörte das Klappern von Geschirr, als die Serviererinnen die Wagen brachten, auf denen sich Teller mit Essen türmten. Ich war nicht einmal angezogen. Ich trug noch mein verschwitztes Sporttrikot. Ich zog Strümpfe mit riesigen Laufmaschen und ein Kleid an. Als ich die Tür aufmachte, stand Ernessa davor. Sie hatte die ganze Zeit auf mich gewartet.
    »Hast du auch verschlafen?«, fragte sie mit falscher Fürsorge. »Wir beeilen uns besser, sonst gibt es einen Tadel.«
    Ich rannte den Flur entlang.
    Nach dem Abendessen saßen Dora und ich in der Ecke des Aufenthaltsraums, in der sich Lucy gewöhnlich mit Ernessa verkriecht. Ich fragte sie, ob sie an das Übernatürliche glaube, »die physische Manifestation des Unbewussten in unseren Wachzuständen«, wie Mr. Davies es ausdrückt. Damit wir wissen, dass es wirklich und unwirklich zugleich ist.
    »Die Geisterwelt«, sagte ich. »Was wir letzte Nacht in Ernessas Zimmer haben gehen sehen.«
    »Das ist doch Kinderkram«, meinte Dora. »Ich glaube nicht an Geister oder Untote oder so etwas. Das sind Märchen. Sie machen einem Angst, trotzdem will man sie hören. Nietzsche sagt: ›Lieber will noch der Mensch das Nichts, als nicht wollen.‹ Es ist nur eine andere Form der Religion.«
    »So habe ich das auch gesehen«, sagte ich. »Aber ich habe mich verändert.«
    »Im Grunde gibt es für alles eine rationale Erklärung.«
    »Aber letzte Nacht hattest du Angst, oder nicht? Als wir aus dem Fenster geschaut haben.«
    »Nachts gewinnt alles eine falsche Bedeutsamkeit«, sagte Dora. »Am Tag wäre es uns vollkommen normal erschienen. Ernessa ist ein eigenartiger, unangenehmer Mensch mit bizarren Schlafgewohnheiten und hält sich für allwissend. Vielleicht schlafwandelt sie die ganze Nacht.«
    »Doch nicht über die Dachrinne.«
    Nun waren wir diejenigen, die flüsterten.
    Ernessa kam in den Aufenthaltsraum, und ich versuchte, sie nicht anzusehen. Sie setzte sich zu den anderen, hielt sofort ein Streichholz an ihre Zigarette und wedelte den Rauch zu einer Wolke. Ihr Kopf war in unsere Richtung geneigt. Sie schien zuzuhören. Sie nickte sogar, als Dora sprach.
    »Ich werde es dir beweisen«, sagte Dora. »Komm in mein Zimmer, wenn das Licht aus ist.«
    »Nein, mir reicht es. Das habe ich dir letztes Mal schon gesagt. Geh bitte nicht.«
    »Sei doch nicht so melodramatisch«, meinte Dora. »Das passt nicht zu dir. Ich werde herausfinden, was mit ihr los ist.«
    »Das finde ich wirklich dämlich.«
    Ich stand unvermittelt auf und ging hinaus. Ich spürte Ernessas Blick im Rücken, der sich durch die Rauchwolke in meine Haut brannte. Heute Nacht werde ich mein Zimmer nicht verlassen.
17. Dezember
Fünf Uhr morgens
    Eigentlich war Dora nie meine Freundin. Sie hat auf mich herabgesehen. Das habe ich immer gewusst. Sie hat getan, als wäre sie meine Freundin, weil sie Ernessa auch nicht mochte. Diese Abneigung verband uns.
    Draußen ist es noch dunkel. Ich warte darauf, dass der Himmel hell wird, damit die Nacht vorüber ist. Der Krankenwagen ist weg. Die Polizeiautos sind weg. Dora ist weg. Von meinem Fenster aus habe ich gesehen, wie sie die Trage wegbrachten. Ihr Gesicht war mit einem weißen Tuch bedeckt.
    Plötzlich waren alle auf. Die Residenz war wachgerüttelt. Alle Lichter gingen an. Ich saß im Bett, als hätte eine Hand mich hochgerissen, mein ganzer Körper vibrierte. Sirenen ertönten; ein Krankenwagen und Polizeiautos rasten die Auffahrt herauf. Blitzende röte Lichter fegten durch mein Zimmer. Und draußen vor der Tür kreischten und schrien Mädchen. Ich konnte den Lärm nicht ertragen. Männerstimmen dröhnten durch den Flur, ich hörte schwere, eilige Schritte. Ich war erschrocken. Dann flossen die Laute zu Wörtern zusammen. »Das hier ist ihr Zimmer.«
    »Aus diesem Fenster ist sie nicht geklettert.«
    »Es muss nebenan gewesen sein.«
    Ich hörte, wie sie an Ernessas Tür hämmerten. Sie würde in einem langen, weißen Nachthemd, das ihre Arme und Beine vollständig bedeckte und bis zum Kinn reichte, an die Tür kommen. Sie würde langsam öffnen und tun, als wäre sie eben erst aufgewacht. Ihr Zimmer würde frei von Staub und dem Atemgeräusch der Mottenflügel sein.
    »Und du hast wirklich nichts gehört? Eine deiner Klassenkameradinnen hatte direkt unter deinem

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