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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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dem Licht verspüren. Ich würde darauf zufliegen. Ich hörte den Mond von ferne wispern, er rief alle fliegenden Geschöpfe zu sich.
    »Du musst jetzt kommen«, rief Dora.
    Diesmal hörte ich sie aus der Nähe, sie zupfte an meinem Nachthemd. Sie hockte ebenfalls in der Dachrinne, und ich überlegte schon, ob ich sie mitnehmen sollte. Ich schob mein Nachthemd über die Taille hoch. Die brennende Kälte des Metalls war mir jetzt egal. Irgendwie schafften wir es zurück. Ich kletterte mit dem Kopf voran hinter Dora durchs Fenster. Wir versteckten uns unter der Bettdecke und lauschten auf die schlurfenden Schritte im Flur.
    Ich musste ihr erzählen, was ich gesehen hatte. Dass Ernessa nicht in ihrem Zimmer war, dass sie nicht im Bett geschlafen hatte, dass das Zimmer leer und mit einer aschegrauen Staubschicht bedeckt war. Von den Motten, den Flügeln und dem Mond sagte ich nichts.
    Vorsichtig öffnete ich die Tür und lief in mein Zimmer. Ich war ganz erleichtert, wieder in meinem Bett zu sein. Ich lag da, horchte auf mein Herzklopfen. Es war so laut, dass es sicher in den verlassenen Fluren und Treppenhäusern hallte. Schließlich beruhigte ich mich und schlief ein. Ich träumte, ich würde in der B-Mannschaft Basketball spielen. Im Traum war alles wie im wirklichen Leben, nur übertrieben, wie ein greller, lauter Film. Ich erwachte mit dem Gefühl, ich hätte nachts wirklich Basketball gespielt.
    Ich sehe mich ständig um, weil ich sichergehen will, dass ich wirklich wach bin.
8. Dezember
    Wenn ich Dora frage, wird sie mir sagen, dass ich letzte Nacht durch die Dachrinne gekrochen bin, dass das Mondlicht auf meinen Rücken schien, während ich mit der Stirn an Ernessas Fenster klebte. Aber was ich gesehen habe, war nicht real. Und auch kein Traum.
    Fade braune Staubmotten, die im Lichtstrahl wirbeln und gegen die Scheibe trommeln. Sie umschwärmen mein Gehirn, mit flatternden Flügeln, verdrängen alles andere, prallen von innen gegen meinen Kopf.
    Ich muss mich mit Schreiben ablenken.
    Im Sommer saßen mein Vater und ich abends draußen und suchten mit Taschenlampen nach Motten. Manche hatten dunkle Streifen auf den Flügeln und tiefblaue, gelb geränderte Augen. Obwohl sie scheu waren, zeigten sie sich in unseren schmalen Lichtstrahlen. Eines Abends entdeckten wir in einem Gestrüpp aus wildem Geißblatt, das über den Zaun wucherte und uns unter seinem Duft begrub, eine blassgrüne Motte mit zwei langen Schwänzen, die wie die Haarbänder eines kleinen Mädchens flatterten. Die Luna-Motte war groß wie ein Vogel. Die gelben Augen auf ihren Flügeln schimmerten im Licht. Wir waren noch Stunden, nachdem die Motte weggeflogen war, ganz aufgeregt und richteten die Taschenlampen immer wieder auf die Stelle, an der wir sie gesehen hatten. Wir machten ein Spiel, während wir darauf warteten, dass sie zurückkam: Es bestand darin, die Farbe der Motte zu beschreiben. Ein Spiel für Dichter. Ich favorisierte die Farbe des Meeresschaums an einem grauen Tag, von unten aus dem Wasser betrachtet. Die Farbe nasser Flechten auf einem Felsen. Die Farbe weißer Hartriegel-Blüten, die sich gerade aus den Knospen entfalten. Die Farbe des Mondes, wenn man ihn in einem Raumschiff ansteuert. Die Farbe eines Kometenschweifs.
    Schließlich gingen wir ins Bett, aber ich konnte nicht einschlafen. Ich lauschte den sirrenden Flügeln und den Insektenkörpern, die gegen den Fliegendraht prallten. Jeder Laut dort draußen stammte von der grünen Luna-Motte, die in mein Zimmer wollte, damit ich sie noch einmal sehen konnte.
    Warum war das nicht genug für meinen Vater? Er hätte sich doch nur an das zerbrechliche Geschöpf erinnern müssen, das auf Schwingen aus Meeresschaum durch das weiße Geißblatt glitt. Das hätte ihm geholfen. Es war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Schöner als ein Gedicht. Wie hatte er das vergessen können?
9. Dezember
    Ich fragte Dora, ob Halluzinationen auch ohne Drogen möglich seien. Sie muss es wissen. Angeblich ist sie die Expertin für psychedelische Drogen. »Klar«, meinte sie. »Das nennt man dann Psychose.« Vielleicht erzeugt das Mondlicht Halluzinationen. Falls nicht, verliere ich den Verstand.
10. Dezember
    »Il arriva chez nous un dimanche de Novembre 189 …« So weit bin ich in Le Grand Meaulnes von Alain-Fournier gekommen. Morgen schreibe ich eine wichtige Französischarbeit über die ersten fünf Kapitel. So schwer kommt es mir gar nicht vor. Allzu viele Wörter werde ich nicht nachschlagen

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