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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Mutter hat getan, als wäre es meine Schuld«, sagte Dora. »Dabei war ich nicht mal mit im Taxi. Ich wollte sie die ganze Zeit davon abhalten, Dope zu rauchen. Wäre sie bei uns geblieben, wäre das alles nicht passiert.«
    »Ich möchte Charley etwas wegen Ernessa fragen«, sagte ich.
    »Sie ist an allem schuld«, meinte Dora. »Sie hält sich für so klug und glaubt, dass sie alles kann, dass ihr nichts passiert. Vielleicht ist es Zeit, dass sie mal erwischt wird. Wenn rauskäme, dass sie dealt, würde sie auf der Stelle fliegen.«
    »Ich weiß nicht, wie sie es immer schafft, mit allem durchzukommen«, sagte ich.
    »Ich habe sie gefragt, ob sie mein Manuskript lesen möchte«, sagte Dora. »Sie antwortete, sie sei nicht interessiert. Romane langweilten sie. So viele öde Details. ›Ich lese nur Gedichte‹, meinte sie. Sie ist so selbstgerecht. Und von Nietzsche hat sie überhaupt keine Ahnung.«
    Ich bin so müde. Ich habe genug von diesem Spiel oder was es auch sein mag. In zwei Tagen beginnen die Weihnachtsferien. Dann muss ich es drei Wochen mit meiner Mutter aushalten. Zu Dora habe ich nichts weiter gesagt. Ich hoffte, sie würde das Thema wechseln.
    »Ich will herausfinden, was sie nachts treibt.«
    »Ich nicht«, sagte ich.
    »Aber ich.«
    Sie öffnete das Fenster. Wir sahen hinaus. Es war kalt und windig. Der Mond war ganz hinter dunklen Wolken versteckt, und ich konnte in dem schwachen grünen Licht, das von unten heraufschien, kaum die Dachrinne erkennen.
    »Es ist zu dunkel«, sagte ich. »Du kannst überhaupt nichts sehen.«
    »Ich könnte mich vortasten«, meinte Dora.
    »Lass es. Letztes Mal bin ich beinahe runtergefallen. Das mache ich nie wieder. Es ist zu schrecklich. Falls ihr Zimmer leer ist, kannst du trotzdem nicht –«
    »Sieh mal«, sagte Dora und stieß mich mit dem Ellbogen an.
    Die Dachrinne war nur ein dicker, grüner Streifen. Der Wind peitschte mir die Haare in die Augen. Am anderen Ende des Gebäudes sah ich etwas an Claires Fenster. »Ist das Claire?«, flüsterte ich.
    Die Gestalt stand auf und kam über die Dachrinne auf uns zu. Sie ging, als hätte sie festen Boden unter den Füßen, ohne zu zögern, ohne zu stolpern, so wie sie auch Klavier spielt. Als sie an ihrem Fenster war, trat sie ins Glas hinein.
    Dora knallte das Fenster zu.
    »Meinst du, sie hat uns gesehen?«
    »Ich weiß nicht.«
    Heute Morgen beim Frühstück fragte ich Dora, ob das letzte Nacht wirklich so passiert sei.
    »Ich glaube schon. Aber vielleicht war es nicht, was wir gedacht haben. Vielleicht hat sie das Fenster weit offen gelassen.«
    Was haben wir denn gedacht?
    Eines verstehe ich nicht. Warum will Ernessa mir zeigen, dass sie anders ist als wir?
    Ich werde bis zum Abendessen schlafen.
Nach dem Abendessen
    Heute hätte ich beinahe das Abendessen verpasst!
    Ich habe mich während der Ruhezeit hingelegt und bin sofort in einen unglaublich tiefen Schlaf gefallen. Ich spürte selbst, wie schwer er war, so als drückte mich eine schwere Hand in die Matratze. Ich war mit meinem Vater zusammen. Zuerst lagen wir nur auf meinem Bett in der Schule, flach auf dem Rücken, die Hände sorgfältig über der Brust gefaltet, mit geschlossenen Augen. Ich lag da, stand aber gleichzeitig neben dem Bett und betrachtete die beiden Körper. »Sind wir beide tot?«, fragte ich sie. Keine Antwort. Plötzlich zupfte etwas an meinem Arm und zog an mir. Ich drehte mich um und sah den Rücken des Menschen, der mich zog. »Was machst du da, Daddy?«, fragte ich. Er antwortete nicht. Er zog nur, fester und fester. Ich musste mich an der Metallstange am Kopfende festhalten und die Füße auf den Boden drücken, damit er mich nicht wegzog. Ich schaute mich um, suchte etwas, womit ich meinen Vater schlagen konnte, damit er mich losließ. Dabei spürte ich, wie unerträglich das alles war und wie dringend ich aus diesem Traum erwachen musste. Ich lag wieder auf meinem Bett, diesmal allein. Mein Vater war weg. Ich konnte mich flach auf dem Bett liegen sehen, bemüht, den Kopf zu heben, mich hinzusetzen, aufzustehen. Mit unendlicher Anstrengung gelang es mir, den Kopf zu heben, nur ein wenig, dann fiel er wieder aufs Kissen, und ich musste wieder von vorn beginnen. Und wieder. Ich war so erschöpft. Meine Lider waren schwer, sie drückten gegen meine Augen. Ich glaubte, ich könnte nie mehr aufwachen. Ich beugte mich über das Bett, um mein schlafendes Selbst zu betrachten. Plötzlich gingen die Augen auf, und meine beiden Ichs starrten

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