Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
Vom Netzwerk:
Geruch klebt an allem.
    Wir rannten die Treppe hinauf, und als wir auf dem ersten Treppenabsatz ankamen, schien mir, als hörte ich unter uns einen dumpfen Laut.
    Als wir in unseren Flur kamen, wollten Dora und ich sofort in unsere Zimmer, doch Charley blieb vor Ernessas Tür stehen und hämmerte dagegen und brüllte so laut, dass ich fürchtete, sie würde alle wecken. »He, Ernessa, wo zum Teufel steckst du? Es ist mitten in der Nacht.«
    »Hör auf!«, zischte ich. »Du bist ja verrückt!«
    Doch sie hämmerte weiter. »Bist du irgendwo Stoff klauen? Dann musst du mir was abgeben.«
    Keine Antwort.
    »Du Arschloch«, sagte ich zu Charley, »die erwischen uns gleich.«
    »Machst du im Brangwyn College Party?«
    Ich packte Charley am Arm und zog sie zu ihrem Zimmer.
    »Siehst du, sie ist nicht drin«, sagte sie.
    Ich hörte ein Geräusch aus Lucys Zimmer, und die Tür ging auf, doch da war meine Tür schon zu, und ich lehnte mich von innen dagegen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Hoffentlich hält Charley den Mund.
6. Dezember
    Charley findet Ernessa ziemlich gruselig, weiß aber nicht, wieso. Sie ist noch nicht bereit, mir zuzuhören. Sie versteht nicht, dass Wahrheit das ist, was man nicht sieht, dessen man sich aber dennoch gewiss ist. Wir haben abgemacht, niemandem zu erzählen, dass sie mitten in der Nacht nicht in ihrem Zimmer war. Ich bin froh, dass ich mit jemandem darüber sprechen kann, der mich nicht ansieht, als wäre ich geistesgestört. Andererseits fürchte ich, dass Charley ihre große Klappe nicht halten kann und sich verplappert. Dann wäre Lucy endgültig gegen mich.
7. Dezember
    Den ganzen Tag über hatte ich eine Idee, war mir aber nicht sicher, ob ich es wirklich tun würde. Charley konnte ich nichts davon sagen. Ich traue ihr nicht.
    Kurz nach der Nachtruhe ging ich zu Dora. Ich wollte aus ihrem Fenster über die Dachrinne klettern und durch Ernessas Fenster sehen. Die Vorstellung, ihr nachzuspionieren, machte mir Angst. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen würde, wenn sie in ihrem Zimmer war und mich entdeckte. Natürlich könnte ich tun, als wollte ich zu Carol im Zimmer nebenan. Aber sie würde mich durchschauen.
    Dora hielt im Flur Wache, während ich das Fenster aufstieß und in die Rinne kletterte. Ich trug mein Nachthemd, und es rutschte mir über die Knie, als ich zu Ernessas Fenster kroch. Die kupferne Rinne war kalt und glitschig. Meine Hände waren so steif, dass ich mich nicht festhalten konnte. Es war nur ein kleines Stück, aber ich bewegte mich zentimeterweise vorwärts, und Dora rief dauernd: »Beeil dich.« Ich traute mich nicht mal, ihr zu sagen, sie solle den Mund halten. Ich fühlte den Mond hinter mir. Das Zimmer war durch die dünnen Vorhänge zu sehen. Das leere Bett war gemacht. Der Raum war so kahl wie zu Beginn des Herbstes, als Dora und ich gesehen hatten, wie sie die Frisierkommode allein durchs Zimmer trug, als sie noch irgendwie freundlich zu uns war. Die Kommode stand noch da und blockierte praktisch die Tür.
    Ich kauerte mich in der Rinne nieder und drückte den Kopf an die Scheibe, um das Gleichgewicht zu halten. Das Mondlicht strömte in einem breiten Strahl ins Zimmer. Mein Schatten fiel auf den Zimmerfußboden, und um den Schatten herum schwebten im Lichtstrahl Millionen Staubpartikel in der Luft. Ein Windhauch wehte ins Zimmer, obwohl das Fenster fest geschlossen war. Jetzt sah ich, dass alles im Zimmer – der Schreibtisch, die Kommode, der Boden, sogar das Bett – mit einer dicken Staubschicht bedeckt war. Der Wind wehte den Staub ins Mondlicht empor. Plötzlich wirbelte so viel Staub durchs Zimmer, dass man kaum noch die Umrisse der Gegenstände ausmachen konnte. Ich hörte Dora aus ihrem Fenster rufen: »Komm zurück, schnell. Da ist jemand im Flur.«
    Ich konnte nicht wegschauen. Meine Stirn klebte an dem eisigen Glas; es kühlte mein brennendes Gesicht. Die Rinne kam mir viel zu schmal vor. Wenn ich mich umdrehte, um zurückzukriechen, würde ich das Gleichgewicht verlieren und ins Nichts stürzen. Im Zimmer sammelten sich Millionen Staubpartikel, nahmen Gestalt an. Ein Schwarm kleiner brauner Motten flog zum Fenster, zum Licht des riesigen Mondes. Sie prallten vor meinem Gesicht gegen das Glas, trommelten mit ihren kleinen Körpern dagegen, wollten zum Licht. Der Lärm war ohrenbetäubend. Ich spürte das Flattern ihrer Flügel durchs Glas, wie den Atem aus tausend Mündern. Wenn ich mich zum Mond umwandte, würde ich die gleiche Sehnsucht nach

Weitere Kostenlose Bücher