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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Fenster einen Unfall. Sie ist gestürzt.«
    »Ich habe einen sehr festen Schlaf«, würde sie sagen. »Wenn ich einmal schlafe, weckt mich nichts mehr auf. Ich schlafe wie eine Tote. Warum fragen Sie nicht die anderen Mädchen?« Ihre Stimme würde flach klingen. Sie würde die Polizisten bitten, sie in Ruhe zu lassen. Es würde wie ein Befehl klingen.
     
    Ich öffnete die Tür und sah, wie die Krankenschwester Lucy und Sofia wegbrachte. Sie weinten. Ihre Schultern bebten, als sie den Flur entlanggingen. Ich stand da, sah ihnen nach. Mitten in der Nacht ist alles schlimmer, vor allem, wenn man aus dem Tiefschlaf gerissen wird. Man weiß nicht, wo man ist oder wo die Träume enden und die Welt beginnt.
    Dora ist unter Ernessas Fenster von der Dachrinne gestürzt. Niemand hat den Sturz gehört. Die Köchin hat sie im Hof gefunden, als sie um vier Uhr morgens kam, um Frühstück zu machen. Sie lag auf dem Pflaster, die Arme ausgebreitet, den Kopf hinter der Schulter verdreht. Der Wind zauste ihr Nachthemd, das bis zur Taille hochgerutscht war. Ihre weißen Beine waren reglos. Sie sah tot aus.
    Ich hätte sie von dieser Dummheit abhalten können. Ich hätte ihr sagen können, was sie sehen würde, sodass sie es sich nicht selbst anschauen musste. Ich hätte ihr sagen können, dass man noch lange nicht vor etwas geschützt ist, nur weil man nicht daran glaubt. Ich hätte ihr von den Motten erzählen können, die aus Staub und Mondlicht schwärmten und in meinem Kopf umhersausten.
    Ich blieb in meinem Zimmer.
    Sie war nie meine Freundin.
    Morgen beginnen die Ferien.
    Ich werde mich aufs Bett legen und versuchen, mich auszuruhen. Es tut weh, die Augen offen zu halten, doch wo werde ich sein, wenn ich sie schließe?
Zehn Uhr morgens
    Bei der Versammlung teilte Miss Rood uns mit, Dora sei tot. Damit war es offiziell. Die Tagesschülerinnen hatten gemerkt, dass etwas nicht stimmte, weil alle Internen mit roten Augen dasaßen. Als Miss Rood zu uns sprach, fingen alle wieder an zu weinen. Ich wusste, dass sie tot war, doch als Miss Rood es aussprach, wurde mein Gesicht richtig heiß, und ich zitterte am ganzen Körper, innen und außen. Mein Körper weiß Bescheid, aber mein Kopf versteht es noch nicht. Ich bin in einer riesigen Blase gefangen. Meine Arme und Beine sind so schwer. Ich kann sie kaum heben. Was immer ich tue geschieht fast nicht. Ich warte, dass die Blase platzt, mich wieder in die Welt entlässt. Aber so läuft es nicht. Es ist, als wartete man, dass die Wirkung einer Spritze nachlässt. Ganz plötzlich merkt man, dass man nicht mehr betäubt ist.
    Miss Rood wiederholte die Worte, es sei ein »furchtbarer, bedauerlicher Unfall« gewesen, wie ein Gebet. Sie sei »betroffen und entsetzt«, weil einige Mädchen über die Dachrinnen der Residenz gekrochen seien. Dann bat sie uns, zu ihr zu kommen, falls wir letzte Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt hätten. Ich werde kein Wort darüber verlieren. Ich habe Angst vor Ernessa. Ich traue niemandem.
    Heute Morgen fiel der Unterricht aus. Miss Brody, die Psychologin, wird später mit den Internen sprechen. Aber was soll sie uns sagen? »Also, Mädchen, ich verstehe, dass ihr ein traumatisches Erlebnis hattet, doch nun muss der Heilungsprozess beginnen …« Sie kann meine Blase nicht sprengen. Alle um mich herum weinten. Ich dachte, Lucy würde durchdrehen. Diesmal mussten sie sie in die Krankenstation tragen. Ich ging sofort auf mein Zimmer. Ich will alles in mein Tagebuch schreiben. Die Einzige außer mir, die nicht weinte, war Ernessa. Aber das hat nichts zu bedeuten. Sie ist ein Mensch, der lachen kann, ohne glücklich zu sein. Also kann sie auch weinen, ohne traurig zu sein. Ich soll in meinem Zimmer bleiben, bis wir uns mit der Psychologin in der Bibliothek treffen, aber ich muss allein zurechtkommen.
Zehn Uhr dreißig
    Die Stelle ist direkt unter Ernessas Fenster, aber weiter im Hof. Sie hat das Dach der Veranda verfehlt, das ihren Sturz hätte aufhalten können. Stattdessen landete sie auf dem Pflaster. Sie ist gesprungen. Wollte wegfliegen. Man hat die Stelle mit Seilen abgesperrt. Auf dem Zement war ein rotbrauner Fleck. Er ist jetzt getrocknet. Ich hatte damit gerechnet, dass das Pflaster geborsten oder ein Loch an der Stelle wäre, an der ihr Körper aufgeschlagen ist, so wie wenn ein Meteorit mit der Erde zusammenstößt. Ich stand hinter dem Seil und schaute hoch zum Fenster im ersten Stock. Die Sonne schien, und das schwarze Glas spiegelte den blauen

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