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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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bleiben, nachdem alle weg waren. Nur die tote Dora ist noch da.
    Letzte Nacht schliefen Sofia und Claire in meinem Zimmer. Wir wollten nicht allein sein. Lucy war wie betäubt. Sie hatten ihr in der Krankenstation Valium gegeben. Sie konnte kaum aufrecht stehen. Sie wollte bei ihren Stofftieren in ihrem Zimmer schlafen, ließ aber die ganze Nacht die Badezimmertüren offen und das Licht im Bad an.
    Claire sagte, Ernessa sei zu Miss Rood gerufen worden, Mrs. Halton und die anderen Fluraufsichten seien auch dort gewesen. Ich bin froh, dass Claire nicht in meinem Mathekurs ist. Sie weiß das mit mir noch nicht.
    »Warum haben sie das getan?«, fragte Sofia. Manchmal ist sie schwer von Begriff.
    »Doras Zimmer war direkt neben Ernessas, und sie ist unter ihrem Fenster gestürzt. Ich nehme an, sie wollten wissen, ob sie etwas gehört hat«, meinte Claire.
    »Oder getan hat«, fügte ich hinzu. Sie achteten nicht darauf. Ich beließ es dabei, weil Lucy in ihrem Zimmer war.
     
    Mitternacht Ich schreibe erst jetzt darüber, weil ich nachdenken musste.
    Irgendwie fand ich den Mut, Ernessa nach dem Abendessen im Aufenthaltsraum anzusprechen. Es ärgerte mich, dass sie so ruhig blieb, während alle anderen, sogar die Mädchen, die Dora nicht besonders gemocht hatten, verstört waren.
    Ich ging zu ihr hin und fragte: »Warum lässt dich die Sache mit Dora so kalt?« Es war Wochen her, dass ich mit ihr gesprochen hatte.
    Ich dachte, sie würde richtig sauer, aber nein. Sie war nicht mal überrascht. Stattdessen zündete sie sich eine Zigarette an und bot mir auch eine an. Ich lehnte ab. Sie sprach sehr langsam, als redete sie mit jemandem, der ihre Sprache nicht gut beherrschte.
    »Warum sollte ich traurig sein? Jeder muss mal sterben. Wenn man erst in einem Körper steckt, ist es zu spät für Tränen. Nur Beerdigungen kann ich nicht ausstehen.«
    Es stimmt, vor dem Sterben fürchte ich mich auch gar nicht so sehr.
    Ich bin nicht bereit, wie Ernessa zu werden. Ich habe mein Tagebuch, meine Bücher, meine Musik, meine Freundinnen, meine Mutter.
    Als ich zu den anderen aufs Sofa zurückkam, starrten sie mich an, als hätte ich etwas Furchtbares getan. Sofia hatte den Arm um Lucy gelegt. Lucy wimmerte. Ich bin zu müde und verwirrt, um aus ihnen schlau zu werden. Ich möchte die nächsten beiden Wochen nur schlafen.
20. Dezember
    Heute Abend habe ich mich gezwungen, Charley anzurufen. Irgendjemand musste es ihr sagen.
    »Dora ist tot«, sagte ich. »Sie ist von der Dachrinne gestürzt.«
    »Das ist doch ein Witz, oder?«, meinte Charley.
    »Nein. Mittwochnacht ist es passiert.«
    »Du willst mir sagen, Dora ist ins ewige Land der Träume abgezischt?«
    »Ja. Dora ist tot, das habe ich doch gesagt.«
    »Scheiße, ich kann nicht glauben, dass sie von der Dachrinne gefallen ist. Wie dämlich.«
    »Ich wollte sie davon abhalten. Ich wusste, dass es ein Fehler war, dass Ernessa …«
    Was Charley danach sagte, konnte ich nicht hören. Der Fernseher lief, ziemlich laut sogar. Charley musste ihn lauter gestellt haben. Das war das Erste, was sie machte, wenn sie in der Schule ins Fernsehzimmer kam. Das Gelächter aus der Konserve übertönte ihre Worte.
    Ich hätte brüllen müssen, um mich verständlich zu machen. Mir fehlte die Energie, Charley zu erklären, dass Ernessa Dora losgeworden war. Ich weiß nicht, ob sie sie gestoßen hat, jedenfalls steckt sie hinter dem Sturz.
    »Ich bin raus«, schrie Charley. »Als Einzige. Kiki, Betsy und Carol kommen wieder. Meine Eltern sind total sauer, aber mir kommt es vor, als hätte man meine Zellentür geöffnet und den Schlüssel weggeschmissen.«
    »Was hast du jetzt vor?«, brüllte ich.
    »Ich geh auf eine Tagesschule in der Nähe.«
    Jetzt sind Charley und Dora weg. Nur ich bin übrig. Der Feigling. Ich werde nie wieder nachts durch dieses Fenster sehen. Ernessa weiß, dass ich ihr nicht zu nahe komme.
    Ich hätte Charley überreden können, den Fernseher abzuschalten, und ihr von Ernessa erzählen, aber es scheint sie nicht mehr zu interessieren. Im Grund macht es ihr nicht mal was aus, dass Dora tot ist. Sie ist aus der Schule, aus unserer Welt verschwunden. Ernessa kann jede Nacht wegbleiben. Ernessa kann sein, was immer sie sein will. Nichts davon zählt mehr. Sie werden keine Joints mehr zusammen rauchen, also Scheiß drauf, wie Charley zu sagen pflegt.
24. Dezember
    Heute Abend ist meine Mutter auf eine Party gegangen. Sie wollte mich mitnehmen, aber ich sagte, mir sei nicht danach.

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