Die Sehnsucht der Falter
weil sie weiß, dass er sich niemals allein mit ihr verabreden würde.
Als wir aus dem Zug stiegen, wäre ich am liebsten wieder in die Schule gefahren, aber Claire schleppte mich zu seinem Haus. Es war nur einige Straßen entfernt. Ein kleines weißes Holzhaus, nichts Besonderes. Claire klingelte, und während wir warteten, mussten wir vor lauter Nervosität loslachen. Ich bin es gewöhnt, Mr. Davies in der Schule zu sehen, wusste aber nicht, wie es sein würde, ihn in seinem eigenen Haus zu erleben. Vielleicht würde er dort zu gewöhnlich wirken.
Seine Frau Charlotte (wir brauchen sie nicht Mrs. Davies zu nennen) öffnete uns die Tür. Zuerst war sie etwas verwirrt, und wir konnten ihr vor lauter Lachen gar nicht sagen, wer wir sind.
»Mr. Davies –«, fing Claire an.
»Ach ja«, meinte sie. »Nicks Schülerinnen. Er erwartet euch schon.«
Nick. Ich weiß, dass er mit Vornamen Nicholas heißt, aber Nick klingt zu flapsig für ihn. Zu Hause muss er wohl ein anderer Mensch sein.
Charlotte hatte ich mir ganz anders vorgestellt. (Wie, weiß ich nicht. Beeindruckend, intellektuell?) Sie ist ein bisschen mollig, aber sehr hübsch. Hellbraunes Haar, das sie mit einer Spange hochsteckt, graue Augen, runde, rosige Wangen. Sie lächelte dauernd und war unheimlich nett zu uns. Noch netter als Mr. Davies. Sie brachte uns Tee und echt gute Plätzchen: Waffeln mit Karamellfüllung. Ich aß zu viele, weil ich so nervös war. Als ich von der Tasse, die ich auf dem Schoß balancierte, hochblickte, schaute Mr. Davies mir fest in die Augen. Er fing an zu lachen – weil ich so viele Plätzchen aß oder weil ich meinen Tee verschüttete? Ich sah Claire an, die neben mir auf dem Sofa saß (einem alten Sofa von der Heilsarmee, darüber eine Decke mit Indien-Druck). Die Haare fielen ihr in die Augen, reichten bis zu ihrer knochigen Nase. Sie hat ein ganz langes, schmales Gesicht und dicke, kraftlose Lippen. Sie ist hässlich. In sie könnte Mr. Davies sich nie verlieben.
Alles ist perfekt. Seine Frau arbeitet in der Familienberatung. Claire fragte sofort nach ihrem Beruf. Sie haben zwei Katzen: eine Schildpattkatze und eine grau-weiße. Ihr Haus hat was von einer Mini-Kommune. Oben wohnt Charlottes Schwester mit Mann und Baby. Wir haben nur das Baby gesehen. Sie teilen sich Einkaufen, Kochen und Putzen. Mitten im Wohnzimmer steht ein alter Friseurstuhl. Echt cool. Das Baby war meistens bei uns, zog sich am Couchtisch hoch und biss in jedes Plätzchen. In der Schule könnte niemand verstehen, wie wunderbar es bei ihnen ist. Sie verstehen nur was von schicken Häusern, neuen Autos, Stereoanlagen, tollen Möbeln …
Ob sie wohl samstags nachmittags hier Tee trinken und über Gedichte reden? Vermutlich reden sie dauernd über Gedichte.
Wir redeten nicht über Gedichte. Charlotte wollte etwas über die Schule wissen und wie es ist, im Internat zu leben.
»Wie kommt ihr nach dem, was passiert ist, denn klar? Nick hat mir alles erzählt«, sagte Charlotte. »Es war so traurig.«
»Was?«, fragte Claire.
»Der Unfall eurer Freundin.«
»Ach das«, meinte Claire. Charlotte begreift nicht, wie schnell man in der Schule unangenehme Dinge vergisst. »Für die Mädchen von unserem Flur war es extrem traumatisch. Aber wir versuchen, es hinter uns zu lassen.«
Das Reden überließ ich Claire. Ich war glücklich damit, Charlotte zu beobachten, die mit untergeschlagenen Beinen dasaß, den Kopf in die Hand gestützt. Sie wirkte so entspannt.
Dann fragte sie, ob wir unsere Familien sehr vermissten. Claire erzählt gern, wie sehr sie ihren Stiefvater hasste und wie seltsam es ist, nach North Carolina zu kommen, wenn man im Norden zur Schule geht. Dass ihre Stiefbrüder Bemerkungen machen wie: »Ich zieh jetzt los und such mir einen Nigger zum Überfahren.«
Mr. Davies und Charlotte waren entsetzt.
»Es ist nur Gerede«, meinte Claire. »Das machen sie nie. Sind eben blöde Teenager.«
»Aber ich finde diese Haltung so beunruhigend«, sagte Charlotte. »Diese Kinder werden Rassisten wie ihre Eltern, sie denken gar nicht über das nach, was sie tun.«
»Darum halte ich es auch nicht aus«, sagte Claire. »Mein Stiefvater ist genauso.«
Das ist alles nur Pose. Sie steht halt gern im Mittelpunkt.
Es war spät, wir mussten zurück in die Schule. Die Mini-Kommune mit den Möbeln von der Heilsarmee, der indischen Decke, den beiden Katzen und dem Baby war viel realer. Zu Hause habe ich auch ein reales Leben geführt. Wie erträgt
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