Die Sehnsucht der Falter
warteten und wir diejenigen waren, die in den Saal gehen und ihre Blicke ertragen mussten.
Letztes Jahr hatte Lucy einen wirklich netten Freund namens Juan, den sie beim Tanztee in St. Andrew’s kennen gelernt hatte. Sie waren nur Freunde, weil Lucy sich nicht mehr traute, aber sie hatte immer einen Partner bei den großen Bällen. Er machte seinen Abschluss, und in diesem Jahr ist keine von uns mehr zum Tanzen gegangen.
11. Januar
Einmal bin ich mit Lucy übers Wochenende nach Hause gefahren. Es war ein totaler Schock.
Wir kamen abends an, von ihrem Vater war nichts zu sehen. Ihre Mutter ist unheimlich lieb, genau wie Lucy. Als wir im Dunkeln zum Haus fuhren und ich den beiden zuhörte, wünschte ich auf einmal, sie wäre meine Mutter. Sie ist so offen und unkompliziert. Lucy kann mit ihr über alles reden. Ihre Mutter mäkelt nie und macht sich nicht über sie lustig, so wie meine Mutter. Bei ihr weiß ich nie, woran ich bin.
Dann war da Lucys Vater. Als wir am nächsten Morgen zum Frühstück runterkamen, saß er in Boxershorts und Unterhemd am Tisch. Er hatte ein dickes, rotes Gesicht, und ihm standen Schweißtropfen auf der Stirn. Vor ihm auf dem Tisch lag neben der Milch und den Cornflakesschachteln ein Gewehr. Er beugte sich darüber, schien es zu reinigen. Ich hatte noch nie eine Waffe gesehen.
Er schaute mich wortlos an. Dann umarmte er Lucy lange und wollte einen Kuss. Ich weiß nicht, wie sie es ertragen konnte, dieses dampfende, rote Gesicht zu küssen. Danach wandte er sich dem Hund zu, einem kleinen, weißen Pudel, der auf dem Stuhl neben seinem saß, und fütterte ihn mit Frühstücksspeck. Dabei keuchte er. Ich konnte jeden einzelnen Atemzug hören. Ich zählte mit. Er sog die Luft ein, hielt inne und stieß sie aus, verbraucht und schmutzig. Wenn er sie herausgequetscht hatte, begann er von vorn. Er verbrauchte die ganze Luft im Zimmer und würde uns nichts übrig lassen. Schließlich stemmte er sich stöhnend hoch, nahm das Gewehr und ging hinaus. Ich war zu verlegen, um Lucy anzusehen oder etwas zu sagen. Ich wollte ihr sagen, dass es mir egal sei, wie ihr Vater war, aber es ging nicht, weil sie jetzt schon nicht mehr normal war, außer man betrachtete einen solchen Vater als normal. Ich sehnte mich nach meinem Vater, weil ich ihr zeigen wollte, wie ein echter Vater ist. Im Grunde tat sie mir Leid.
Den Rest des Wochenendes haben wir ihn kaum gesehen. Als wir im nahe gelegenen Wald spazieren gingen, erzählte Lucy, dass er eine Freundin in der Stadt habe und meistens bei ihr sei. Ihre Mutter sei froh darüber. Das Problem sei nur, dass er keine Scheidung wolle. Als ihre Mutter das Thema einmal ansprach, hielt er ihr eine Waffe an den Kopf und drohte, sie umzubringen. Lucy stand daneben und sah, wie sich die Mündung in die Haut ihrer Mutter bohrte.
»Er hat nur Spaß gemacht. Sie war nicht geladen«, meinte Lucy.
Aber ich weiß, dass Lucy Angst hatte. Sie dachte, ihr Vater wollte sie beide töten.
Ich erinnere mich genau an diesen Nachmittag im Wald. In der Schule blühte schon alles, doch die Bäume hier sahen tot aus. Kein Anzeichen von Frühling. Die Welt wirkte plötzlich düster, kraftlos. Ich ging hinter Lucy her, betrachtete ihr langes blondes Haar, das sie nach dem Willen ihres Vaters nicht abschneiden durfte, und musste dauernd denken: »Warum habe ich sie für so normal gehalten?«
Ist es möglich, dass Lucy all das durchgemacht hat? Ich sehe sie an und entdecke keine Spuren dieses Schreckens. Sie beharrt darauf, sie sei nur ins Internat gegangen, weil sie aus einem winzigen Ort kommt, in dem nie was passiert. Aber das ist nicht der wahre Grund. Mir wird schlecht, wenn ich an ihn denke, an den ungeheuren Bauch, der ihm über die Hose quillt. Ich weiß nicht, wie er damit Sex machen kann. Und wer könnte es ertragen, ihn zu berühren? Ich betrachte meinen Stift, nachdem ich das hier geschrieben habe, und kann ihn einfach nicht mehr festhalten.
Dora hat Lucy mal als Papakind bezeichnet. Ihr Vater zwingt sie, etwas zu sein, was sie eigentlich nicht sein will.
Bin ich die Tochter meines Vaters?
Schluss jetzt: Ich glaube, Lucy ist gerade in ihr Zimmer gekommen.
Licht aus Ich drücke die Daumen, dass alles so bleibt.
Eigentlich hätte ich heute Abend lernen sollen, statt so viel in mein Tagebuch zu schreiben. Ich habe Lucy versprochen, dass ich sie deutsche Vokabeln abhöre.
Prüfungen. Prüfungen. Prüfungen. Prüfungen. Prüfungen. Die ganze Woche über.
Carol, Betsy und
Weitere Kostenlose Bücher