Die Sehnsucht der Falter
Mr. Davies es nur, jeden Morgen von hier in die Residenz zu fahren?
Charlotte holte unsere Jacken. Dabei ließ sie den purpurroten Schal fallen, den meine Mutter mir in den Ferien geschenkt hatte. Mr. Davies hob ihn auf, schlang ihn um meinen Hals und legte die Enden übereinander. Es wirkte spielerisch, doch seine Bewegungen waren präzise, als hätte er sie sorgfältig geplant. Ich musste an einen Priester oder Rabbi denken, der ein Ritual vollzieht. Er hielt den Schal noch fest, nachdem er ihn mir so bedachtsam umgelegt hatte. Er zog mich näher heran. Ich wich zurück. Er zog fester. Die kratzige Wolle legte sich enger um meinen Hals, und er lächelte wie im Unterricht. Hätte er losgelassen, wäre ich hintenübergefallen. Er tat es vor aller Augen, und ich spürte, wie ich in ihn hineinfiel. Ich konnte mich kaum zurückhalten. Das Baby war aufs Sofa gekrabbelt, saß da und starrte uns an. Charlotte und Claire standen an der Haustür und sprachen noch immer über den Süden. Charlotte erzählte, sie sei während ihres College-Studiums mit den Freedom Riders nach Mississippi gefahren. Ich konnte ihnen nicht zuhören. Mr. Davies’ Gesicht war meinem so nahe, dass ich seinen warmen, feuchten Atem an der Wange spürte.
Als Charlotte die Tür zumachte, sagte sie noch: »Ihr könnt jederzeit herkommen. Ehrlich. Es hat Spaß gemacht mit euch.« Doch hinter ihrer Fröhlichkeit verbarg sich eine andere Stimme.
Hinter ihr erklang die Stimme von Mr. Davies. Genau so hörte sie sich an, wenn er uns am Ende der Stunde entließ. »Denkt dran, wir können über alles reden, was in der Schule passiert.«
Claire und ich gingen in der Kälte zum Bahnhof. Es war dunkel. Ich war schweißnass. Der Wind blies durch meine Jacke, und mich überkam ein unkontrollierbares Zittern. Claire redete unaufhörlich. Seine Frau sei ja nett, aber ziemlich dick, und das Haus chaotisch, und als sie zur Toilette gegangen sei, habe sie in sein Arbeitszimmer geschaut und den Schreibtisch gesehen, an dem er seine Gedichte verfasst, und sie wolle ihn wieder besuchen und ob ich dann mitkäme?
Sein Haus ist nicht das Haus eines Dichters.
10. Januar
Lucy war sauer auf mich, weil ich gestern den ganzen Nachmittag weg war. Daher versprach ich, am Sonntag etwas mit ihr zu unternehmen. Nach dem Mittagessen fuhren wir mit dem Zug aufs Land und liefen auf dem Crumb Creek Schlittschuh. In der letzten Woche ist es so kalt geworden, dass der Bach zugefroren ist. Letztes Jahr sind wir fast jeden Tag hier Schlittschuh gelaufen. Wir konnten ziemlich weit den Bach hinunterlaufen. Als wir über das schwarze Eis glitten, sah ich hinauf zum frischen blauen Winterhimmel und dachte, diesen Augenblick muss ich mir merken. Meine Schlittschuhe sitzen ein bisschen eng, sodass mir die Füße wehtun. Meine Finger und Zehen sind praktisch taub, doch die Sonne scheint so grell, dass ich in meiner Jacke schwitze. Genau jetzt bin ich vollkommen glücklich.
Wir kamen zu einer Biegung, an der der Bach breiter wird und ein steiler Hang zum Wasser hin abfällt. Auf der anderen Seite streifen die schwarzen Zweige der Trauerweiden das Ufer. Zwei Jungen rutschten auf einem Pappkarton und etwas, das ich für ein Tablett aus einer Cafeteria hielt, den Hang hinunter. Wir rutschten ein paar Mal mit, was mit Schlittschuhen an den Füßen gar nicht so einfach war.
Lucy rutschte mit dem einen Jungen auf dem Karton, ganz unten fielen sie dann runter. Er lag auf ihr, und sie blieben eine Weile so liegen, küssten sich nicht, lagen nur zusammen im Schnee. Als sie aufstand, war sie ganz rot im Gesicht. Auf dem Rückweg schien der Tag schon ganz fern.
Ich glaube, selbst als meine Mutter noch mit meinem Vater verheiratet war, hatte sie Affären. Sie macht sich immer über mich lustig und fragt, wann ich mir einen Freund zulege. Ich sage dann, dass sich beim Tanztee noch nie jemand für mich interessiert habe. Sie wollen immer mit Mädchen wie Lucy tanzen, die blond sind und helle Augen haben. »Sie hat so etwas Passives. Sie ist nicht ganz da«, hat meine Mutter mal über Lucy gesagt. »Die wahre Schönheit bist du mit deinem dunklen Haar und der wunderbaren Haut. Irgendwann werden die Jungen erwachsen, dann merken sie es.«
Außerdem will ich gar keinen Freund. Letztes Jahr beim Tanz in den Mai lud Linda Cates mich und Carol für ihren jüngeren Bruder und dessen Freund ein. Ich bekam den Freund. Ich war überrascht, dass Linda mich überhaupt gefragt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wieso.
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