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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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es auch nicht. Sie steckten im Schlafsack, und Chris lag auf ihr und bewegte sich langsam vor und zurück. Dann raschelte es leise, und Ernessa tauchte neben mir auf. Sie lächelte verschwörerisch.
    »Du musst genauer hinsehen«, sagte sie laut. Ich war sicher, sie konnten uns hören und würden sich beobachtet fühlen. »Siehst du nicht, wie sich ihre schwebenden Geister umschlingen? In alle Ewigkeit, wie in einem Gedicht. Siehst du sie immer noch nicht? Ich glaube nicht an Geister, aber ich glaube an die Ewigkeit. Sicher spüren sie jetzt die Ewigkeit.«
    Ich wollte sagen, sie solle leise sein und nie wieder mit mir reden, aber sie war schon weg.
    Sie hatten den Schlafsack weggeschoben und lagen auf der feuchten Erde, völlig nackt. Noch immer schienen sie nicht zu merken, dass ich praktisch über ihnen stand. Sofia lag unten, wimmerte und schlug mit den Händen, grub dann die Fingernägel in seinen Rücken, und Chris erhob sich und stürzte auf sie nieder, wobei er ihre Schultern auf den Boden drückte, zuerst mit den Händen, dann mit den Knien, als er auf ihrem Körper nach oben rutschte. Er sah zu mir herüber, als er sich in ihren Mund gezwängt hatte, und ich konnte ihn genau erkennen: das kurze blonde Haar, die feuchten blauen Augen, das rosige Gesicht mit den Pickeln auf der Stirn. Er sah aus, wie Sofia ihn beschrieben hatte.
    Seine Knie hoben und senkten sich, er stützte sich mit den Händen ab. Sofia stieß erstickte Schreie aus. Wenn seine Knie herunterstießen, drückte er Sofia jedes Mal ein bisschen tiefer in die Erde. Der Boden barst unter ihrem Gewicht. Die Erde lockerte sich. Zerbröselte. Sofia versank, bis sie nicht mehr zu sehen war, nur ihre Hände griffen noch in die Luft. Sein breiter Rücken hob sich weiß von der schwarzen Erde ab.
Mitternacht
    Ich fragte Sofia: »Hat er dir sehr wehgetan?«
    »Ein bisschen«, sagte sie und hakte mich unter. »Es war ungemütlich, aber nicht richtig schmerzhaft. Er war ganz süß. Ich glaube, ich habe nicht sehr geblutet. Ich wollte es einfach so schnell wie möglich hinter mich bringen. Es ist nicht so schlimm, wie ich gedacht habe. Du brauchst keine Angst davor zu haben.«
    »Und sonst hat er nichts getan?«, fragte ich.
    »Wie meinst du das?« Sofia sah mich misstrauisch an.
    »Keine Ahnung. Vergiss es.«
19. April
    Diese Schule ist wirklich am Ende. Viele Tagesschülerinnen sind heute zu Hause geblieben. In den Pausen waren die Flure ganz leer. »Es steht an der Wand geschrieben« – wie man Vater zu sagen pflegte.
    Miss Bobbie ist tot.
    Es ist am Wochenende passiert, aber die Tagesschülerinnen hatten irgendwie schon davon erfahren. Miss Rood hat es heute Morgen in der Versammlung bekannt gegeben. Sie wollte es geheim halten, doch so etwas lässt sich nicht verbergen. Hunderte Mädchen keuchten wie aus einem Mund, sahen sich an und begannen zu flüstern. Es war wie ein Traum. Sofort zischte die Reihe der Lehrerinnen ganz hinten im Saal los, um uns zur Ruhe zu bringen.
    »Ruhe, Mädchen. Die Versammlung ist noch nicht vorbei. Ich habe euch noch nicht entlassen«, sagte Miss Rood.
    Die Versammlung wurde fortgesetzt, als stünde nicht das Ende der Schule bevor. Das war auch ihre Absicht. Wir sollten die Neuigkeit verarbeiten, bevor sie uns gehen ließ. Miss Rood sagte uns nicht mehr über Miss Bobbie. Sie wirkte weniger erschüttert als bei Paters Tod. Diesmal hatte sie keine rote Nase. Sie blieb vollkommen ruhig. Ich fragte mich schon, ob ich sie missverstanden und sie nur die Namen der Mädchen verlesen hätte, die sich nach der Versammlung bei Miss Bobbie melden sollten.
    »Wir singen Lied einundfünfzig«, sagte Miss Rood und gab der Musiklehrerin ein Zeichen, mit dem Klavier einzusetzen. Die ersten Takte gingen unter, als wir geräuschvoll nach unseren Gesangbüchern griffen. Ohne zu zögern sang ich mit den anderen los: »O Gott, du Stütze der Vergangenheit, du Hoffnung für die künftige Zeit.« Dieses Kirchenlied mag ich am liebsten. Miss Rood sucht es immer aus, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Sie ließ uns sämtliche Strophen singen. Eine Wildheit legte sich über ihr Gesicht, als sie sang: »Die Zeit fließt immerdar dahin, trägt ihre Söhne fort: Vergessen fliehn sie, wie ein Traum, den weht der Morgen fort.«
    Nach dem Lied verlas Miss Rood die Ankündigungen für die nächste Woche und sagte dann wie am Ende jeder Versammlung: »Ihr könnt jetzt gehen.« Die Lehrerinnen standen alle gleichzeitig auf und wollten uns hinausführen.

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