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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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»Nicht rennen! Nicht reden! Alle in einer Reihe!«, riefen sie. Aber wir waren nicht zu bremsen. Sobald wir den Saal verlassen hatten, stürmten wir los und rannten geradewegs zur Tür, die in den Übergang führt. Das Stimmengewirr schwoll an und riss alle mit. Mir dröhnen noch immer die Ohren.
    Im Übergang holte ich Claire ein. Sie hatte schon etwas aus einer älteren Schülerin herausbekommen, die jemanden kannte, der aus erster Hand Bescheid wusste. Sie sagte, man habe Miss Bobbies Leiche auf dem oberen Sportplatz gefunden. Ihr Oberkörper war zerfetzt. Genauso drückte sie sich aus. Zerfetzt. Nur Blut und Fleischfetzen, aus denen Knochensplitter ragten. Ihr Unterkörper mit dem Schottenrock, den marineblauen Kniestrümpfen und braunen Schnürschuhen war unversehrt. Daran hatte man sie auch erkannt. Ein wildes Tier hatte sie gejagt und angegriffen. Sie wollte weglaufen. Man stelle sich Miss Bobbie wegrennend vor. Es hatte sie gegen die eisernen Zaunpfähle gedrückt. Es war hungrig.
    Wir sind hier nicht in der Wildnis. Das Wildeste, was ich je gesehen habe, war ein Eichhörnchen.
    Eigentlich müsste ich Angst haben, aber nein, ich fühle mich geschmeichelt. Ernessa hat etwas anderes mit mir vor. Sie hat mich erwählt, alles mit anzusehen. Das könnte Lucy nie. Sie ist das Opfer und spielt ihre Rolle wunderbar. Iphigenie, die Jungfrau, die von ihrem Vater der Artemis geopfert wurde, um einen Krieg zu gewinnen. Lucy rettet uns alle.
    Früher dachte ich, meine Eltern könnten mich vor allem beschützen. Wenn ich ein Boot bestieg, erinnerte mich das sanfte Wogen der Wellen an eine Wiege. Jetzt prallen die gleichen Wellen seitlich gegen das Boot, stoßen es umher wie ein Spielzeug.
    Danke, Daddy, dass du mich darauf vorbereitet hast, Ernessas Zeugin zu werden. Danke, dass du mir ihren vergifteten Apfel gebracht hast.
    Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich war. Jener Mensch hätte Mitleid mit Miss Bobbie gehabt. Vielleicht ist sie tatsächlich auf so furchtbare Weise gestorben. Als ich durch den Übergang zum Unterricht ging, stellte ich mir vor, man risse mir die Kehle auf, ich ertränke in meinem Blut, während das Ding, das mich angriff, nicht innehielt, unablässig, unpersönlich zuschlug. Doch ich verspüre kein bisschen Mitleid. Ich sehe noch, wie Ernessa im Wasser hochsteigt, sich durch die schwere Flüssigkeit kämpft, sich den Weg hinausgräbt, während Miss Bobbie sie nicht beachtet, am Beckenrand entlanggeht und Anweisungen brüllt. Bei jedem Schritt wabbelt die schlaffe Haut an ihren Knien. Ihre marineblauen Kniestrümpfe rutschen bis zum Knöchel herunter. Nach einer Woche Schwimmen war Ernessa so geschwächt, dass sie kaum noch laufen konnte. Sie ertrank vor aller Augen. Sie konnte friedlich unter einer schweren Decke aus Erde schlafen, aber im Wasser war sie lebendig begraben. Sie sank ganz schnell nach unten und kam jedes Mal kaum wieder hoch. Sie ist so stark. So schwach.
20. April
    Alle haben ihren Eltern von Miss Bobbie erzählt. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, meine Mutter anzurufen. Miss Rood schickt Briefe an alle Eltern, in denen sie erklärt, es gebe keinen Grund zur Sorge, obwohl in diesem Schuljahr zwei Menschen und ein Hund zu Tode gekommen sind. Einer nach dem anderen. Sie wird schreiben: »In der Brangwyn School hat es eine Reihe unglücklicher Vorfälle gegeben, doch die Verwaltung hat die Lage vollkommen unter Kontrolle. Sie können darauf vertrauen, dass Ihr Kind bei uns sicher aufgehoben ist.« Doch das wird diesmal nicht reichen. Niemand will nächstes Jahr wiederkommen, und im Versammlungssaal sieht man täglich mehr leere Stühle. Wir werden immer weniger.
    Als ich heute nach dem Sport über die Auffahrt zur Residenz ging, sah ich Betsy mit ihrer Mutter die Treppe herunterkommen. Sie trug einen Koffer. Sie stellte ihn ab und lief auf mich zu.
    »Meine Mutter holt mich nach Hause. Ich habe gesagt, ich wolle hier bleiben, aber sie hat mich gezwungen. Ich hätte sie gestern Abend nicht anrufen sollen, aber ich war so durcheinander.«
    »Du bist bestimmt nächste Woche wieder da«, sagte ich.
    Ich sah, wie sie in den gelben Kombi mit der Holzverkleidung stieg. Ihre Mutter setzte zurück, und als sie wegfuhren, drehte Betsy sich noch einmal um und winkte. Sie ist bisher die einzige Interne, die abgeholt wurde, aber die meisten wollen nächstes Jahr nicht wiederkommen. Jetzt haben sie einen neuen Grund, die Schule zu hassen. Sie glauben, ihnen könnte hier etwas Schreckliches

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