Die Sehnsucht der Falter
Nacktheit sehen, wenn sie den Badeanzug mühsam hochzieht. Es ist eine Qual für sie. Die anderen sehen, dass ihre Brüste ganz flach sind, wie bei einem kleinen Mädchen. Nicht mal die Brustwarzen erheben sich über die umliegende Haut. Sie sind kaum zu erkennen; nur ein Schatten auf der Haut. Es wird nicht länger ein Geheimnis sein. Sie werden zugeben müssen, dass sie eigenartig ist.
Als ich mich in der neunten Klasse mit älteren Mädchen zum Schwimmen umzog, musste ich immer hinstarren. Meine Augen wanderten stets zu dem dunklen, krausen Haarfleck zwischen ihren Beinen, über dem weichen Fleisch der Oberschenkel. Bei einem kleinen Mädchen ist die glatte Hautfalte nicht anders als ein Augenlid. Erst die Haare verwandeln sie. Das grobe Haar verbirgt den Eingang zu einem geheimen Ort. Meine Brüste waren jämmerliche Hügelchen, während einige der großen Mädchen große, gerundete Brüste mit riesigen Nippeln hatten, rosa, purpurn und braun. Sie hatten Frauenkörper. Sie ertappten mich und warfen mir vor, ich hätte sie angestarrt. Dann sahen alle zu mir hin und bemerkten meinen kläglichen Körper.
11. April
Es ist der zweite Tag des Passah-Festes, und ich esse kaum etwas. Ich habe es niemandem erzählt. Ich sage einfach, ich sei nicht hungrig. Außer mir würde höchstens Ernessa Passah beachten, und sie isst ohnehin nie etwas. Schon gar nichts Süßes wie Zimtbrötchen und Angel Cake mit Schlagsahne. Auf etwas zu verzichten, das man gern hätte, ist auch irgendwie befriedigend. Mein Vater hielt immer die Regeln des Passah-Festes ein und fastete an Jom Kippur. Er folgte gerne Ritualen, obwohl er nicht gläubig war. Ich trinke viel Kaffee und Wasser.
12. April
Neue Sitzordnung. Zum ersten Mal sitze ich mit Ernessa an einem Tisch, und zwar bei Miss Bombay. Sie haben an Passah die beiden Jüdinnen an einen Tisch gesetzt.
13. April
Nach dem Abendessen
Wieder ein Abendessen mit Ernessa. Es fällt mir schwer, nicht die ganze Zeit hinzustarren. Entweder muss ich sie ansehen oder Miss Bombay, die das Essen in sich hineinschaufelt. Sie ist noch dicker als früher, wie ein gestrandeter Wal. Nach dem Essen dauert es ewig, bis sie vom Tisch hochkommt und zum Aufzug geht. Ohne Aufzug würde sie es gar nicht in ihr Zimmer schaffen. Während sie isst, schaut sie sich ständig um, ob wir auch gut essen und Milch dazu trinken. Heute Abend fiel ihr auf, dass Ernessa nur tat, als äße sie, und ihre Milch nicht angerührt hatte.
»Stimmt etwas nicht mit deinem Essen, Ernessa?«, fragte sie. »Schmeckt es dir nicht?«
»Ich habe heute Abend überhaupt keinen Hunger.«
»Aber wir müssen essen, um bei Kräften zu bleiben. Vor allem heranwachsende Mädchen. An diesem Tisch haben wir es nicht eilig. Wir warten, bis du fertig bist.«
»Ich möchte nichts mehr«, sagte Ernessa.
»Aber du musst essen, außer dir ist schlecht. In diesem Fall musst du dich nach dem Essen auf der Krankenstation melden.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Ernessa und zeigte auf mich.
Miss Bombay folgte ihrem ausgestreckten Finger, alle sahen zu mir her. Sie schauten auf meinen Teller, auf dem sich noch Spaghetti türmten. Ich hatte die Fleischbällchen gegessen und meine Milch ausgetrunken.
»Nun, was ist mit dir? Auf dich warten wir auch.«
»Ich habe einen Grund, das nicht zu essen«, sagte ich ganz leise.
»Und der wäre?«
»Es ist Passah.«
»Ja …«
»Ich darf an Passah keine Spaghetti essen. Es ist verboten. Sehen Sie, die Fleischbällchen habe ich gegessen.«
Es war mir peinlich, es vor allen anderen einzugestehen. Ich wurde glühend rot, doch niemand achtete auf mich. Sie konzentrierten sich auf Miss Bombays Bemühungen, die Ernessa dazu bringen wollte, etwas zu essen und Milch zu trinken. Ernessa nahm ein paar Bissen und nippte an der Milch, was Miss Bombay zufrieden zu stellen schien, die einfach Nahrung in ihr verschwinden sehen wollte. Ernessa legte die Gabel hin. Miss Bombay wies die abräumenden Mädchen an, die Teller mitzunehmen. Geschirr und Besteck klapperten, da nun alle schnell aufaßen. Die meisten anderen Tische waren bereits entlassen, die Mädchen tranken Kaffee. Wir standen nicht länger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich schaute zu Ernessa hin. Zum ersten Mal hatte ich sie essen und trinken sehen.
»Geht es dir jetzt besser?«, wollte Miss Bombay wissen. »Nein«, antwortete Ernessa. »Ich hatte keinen Hunger.« Ich sah sie an, während sie sprach, ihr standen Schweißtropfen auf der Stirn. Ich sah, dass ihr
Weitere Kostenlose Bücher