Die Sehnsucht der Falter
zustoßen. Ich weiß, dass niemandem von uns etwas passieren wird, nicht einmal mir. Nur der bedauernswerten Lucy. »›Wär Lucy …‹, rief ich selbst mir zu, ›Erbarmen, wär sie tot!‹«
Nach dem Abendessen
Heute Abend sprachen alle nur über Betsys Abreise. Sie wussten nicht, ob es wirklich dumm war oder ob sie im Grunde selbst nach Hause fahren wollten. Beth, das Mäuschen, das nie ein Wort sagt und für einen Monat nach Hause geschickt worden war, nachdem sie sich das Handgelenk zerschnitten hatte, verkündete, am Sonntag sei ein Polizist über den oberen Sportplatz gelaufen.
»Scheiße«, rief Carol, »wenn sie uns nun verhören, so wie damals bei Dora? Sofia, du bestehst nie im Leben einen Lügendetektortest. Dann wissen alle, was du Samstagnacht gemacht hast.«
»Meinst du, wir müssen alle an einen Lügendetektor?«, fragte Sofia. Sie war den Tränen nahe.
»Hör auf«, sagte ich. »Hier wird niemand verhört. Miss Bobbie hatte vermutlich einen Herzinfarkt und ist im Schlaf gestorben. Oder sie ist ausgerutscht, hat sich den Kopf gestoßen und ist ins Schwimmbecken gefallen.« Jetzt sah ich Ernessa, die am Beckenrand stand und zusah, wie Miss Bobbie unterging. »Warum wollen alle die Sache so aufbauschen?«
Sofia wirkte völlig verwirrt. »Wir müssen lügen, sonst fliegen wir.«
»Nein«, sagte ich, »wir werden als Einzige übrig bleiben.«
Ich würde alles tun, um nicht zu fliegen. Selbst wenn ich die Einzige wäre. Ich will niemals hier weg. Ich gehöre hierher.
Licht aus
Sie nähren sich gegenseitig von ihrer Angst und können nie genug kriegen. Niemand will an etwas anderes denken. Sie sind wie Kinder, die sich mit einer Taschenlampe unter die Decke kuscheln und Gruselgeschichten erzählen. Heute Abend hat Sofia vor dem Lichtausschalten geweint. Sie sagte, sie sei zu durcheinander, um zu schlafen. Carol saß auf ihrem Bett und wollte sie trösten. Sie schob sich ständig die blonden Haare aus den Augen, warf sie über die Schulter und drehte den Kopf zur Seite. Es machte mich wahnsinnig. Am liebsten hätte ich ihre Hand gepackt und auf den Rücken gedreht.
Ich habe das Versprechen gebrochen, nie wieder ihren Namen zu erwähnen. Es wird Zeit, dass alle verstehen, was hier geschieht. Sie müssen den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Einbildung erkennen. Sie ist gleich um die Ecke, hinter ihrer Tür. Das müssen sie begreifen.
Carol stand sofort auf und ging aus dem Zimmer. Sogar Sofia sah mich eigenartig an.
»Sie isst nichts«, beharrte ich. »Habt ihr je gesehen, dass Ernessa sich Essen in den Mund gesteckt hätte?«
»Ach, keine Ahnung«, meinte Sofia ungeduldig. »Ich kann mich nicht erinnern. Was hat das denn mit dieser Sache zu tun?«
»Wie überlebt sie? Sie muss irgendwelche Nahrung zu sich nehmen.«
»Nur weil ich sie nie essen sehe, heißt das noch lange nicht, dass sie nichts isst. Und denk mal an Annie Patterson, wie lange sie durchgehalten hat, nichts zu essen. Monatelang hat keiner was gemerkt.«
»Und am Ende war sie ein Skelett. Seht euch Ernessa an –«
»Ich bin von ihr nicht so fasziniert wie du. Ich studiere auch nicht ihre Essgewohnheiten. Im Übrigen isst du selbst nichts.«
»Meinst du nicht, ich würde essen, wenn ich etwas fände, das mir schmeckt?«
»Ich kann nicht mehr darüber reden«, sagte Sofia. »Ich muss jetzt schlafen.«
Endlich hatte ich ihre Aufmerksamkeit erregt. Mit dem Thema Essen funktioniert das immer.
21. April
Mittagszeit
Lucy hat heute das Frühstück verschlafen und gesagt, sie wolle sich bei der Krankenschwester eine Entschuldigung für den Sportunterricht holen. Ich kann das alles nicht noch einmal ertragen. Ich sagte, sie solle ihre Mutter anrufen und ihr sagen, sie fühle sich nicht wohl. Lucy tobte.
»Meine Mutter würde mich noch heute Nachmittag abholen. Ich bin nicht krank und muss nicht nach Hause. Ich will nicht nach Hause. Ich bin nur ein bisschen daneben. Wie alle.«
Seit den Ferien hatten wir keine Probleme miteinander. Ich bin ihr aus dem Weg gegangen. Ich mag nicht mal in ihrer Nähe sein. Ich war viel mit Sofia und Carol zusammen. Ich dachte, es würde immer so weitergehen.
Ernessa hat nur ein Spiel gespielt, das wir alle spielen. Sie genießt es, sich etwas zu versagen, so wie wir einen Teller voller Angel Cake mit Schlagsahne wegschieben. Wir können es ein paar Mal durchziehen, doch letztlich geben wir nach und stopfen uns voll. Man spürt, dass man ohne dieses Stück Kuchen nicht leben kann.
Manchmal stand
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