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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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die Haut kalt wie Marmor. Sie hatte sich nicht gerührt, seit ich zum ersten Mal nach ihr gesehen hatte. Ich geriet in Panik. Sie war tot. Doch als ich ihr die Hand aufs Herz legte, fühlte ihre Brust sich warm an, und etwas flatterte unter meiner Handfläche. Sie hatte noch ihren Geruch, den Geruch von feuchtem Puder.
    Ich musste raus. Mit einem Stapel Bücher und meinem Notizheft trat ich durch die Schwingtür in die Bibliothek. Sonntagmorgens ist es hier still. Alle waren sonst wie beschäftigt. Ich war ganz allein. Weg von Lucy. Das Licht fiel in Streifen durch die hohen Fenster.
    Die anderen wären überrascht, wenn sie wüssten, dass sie sich mir anvertraut. Sie hat keine Freundinnen und braucht auch keine, aber mir erzählt sie alles. Am meisten überrascht wäre wohl Mr. Davies, der nicht an Bücher glaubt und sie als böse Träume abtut. Ich hatte meine Bücher nicht mal aufgeschlagen. Ich wartete ab. Es gab noch eines, was sie mir sagen wollte.
    »Bücher werden dich nicht retten«, sagte Ernessa. »Dein Schreiben wird dich nicht retten. Die Vergangenheit wird dich nicht retten. Mr. Davies wird dich nicht retten. Daddy wird dich nicht retten. Du könntest es mit einem Kruzifix versuchen. Der Davidstern hat noch niemanden gerettet.«
    »Mein Vater wollte mich retten«, sagte ich. »Daran werde ich bis zuletzt glauben. Es wird mein letzter Gedanke sein.«
    »Durch ihn bist du überhaupt erst in diese Lage geraten. Eltern vererben einem eine Krankheit; sie infizieren einen mit dem Leben. Dein Vater hat es möglich gemacht, dass du mich so siehst, wie ich bin, und meine Worte hörst.«
    »Das stimmt nicht. Das ist dir passiert. Es war dein Tod. Die Spaziergänge, die Gedichte, die Suche nach der Motte im Dunkeln mit der Taschenlampe. Das alles ist wirklich geschehen. Wir waren zusammen, jedenfalls für eine Weile.«
    »Er hat dir auch noch andere Märchen vorgelesen, die du vergessen hast.«
    Sie begann leise zu summen, dann zu singen, im Flüsterton, ein vertrautes Lied.
     
    Mein Mutter der mich schlacht,
    mein Vater der mich aß,
    mein Schwester der Marlenichen
    sucht alle meine Benichen,
    bindt sie in ein seiden Tuch,
    legt’s unter den Wacholderbaum.
    Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vogel bün ik!
     
    Ich hielt mir die Ohren zu, wie ich es immer getan hatte, wenn mein Vater dieses Lied sang. Ich war dann erleichtert, dass ich nicht den kleinen Bruder bekommen hatte, den ich mir so wünschte. Ich könnte nie wie Marlenichen sein und ihn auf die Ohren hauen und seinen Kopf abfallen und in die Ecke rollen sehen. Mein Vater würde nie sein Kind essen und um Nachschlag bitten. Meine Mutter wäre niemals eine Hexe.
    »Zeit, dich zu befreien«, sagte sie.
    »Ich bin frei.«
    Ich erwartete, sie würde wütend werden, weil ich ihr widerstand, aber nein.
    Ernessa schob den schweren Holzstuhl zurück, der über den Boden schabte, als säße ein richtiger Mensch darauf. Mit einer einzigen langen Bewegung holte sie etwas aus der Tasche und zog es über ihr linkes Handgelenk. Sie hielt es mir hin, als böte sie mir etwas an. Ein Moment verging. Nichts geschah. Dann barst die Haut, entblößte das rote Fleisch, eine Wunde wie ein lachender Mund. Blut spritzte heraus wie Wasser aus einem Schlauch. Es durchnässte ihre Kleider, bildete Teiche auf dem Boden, regnete in dunklen Tropfen vor mir auf den Tisch, auf meine Bücher und mein Notizheft. Es strömte einfach heraus. Es ließ sich nicht stillen.
    Sie ließ die Rasierklinge auf den Tisch fallen. Als sie sich aufrichtete, verdeckte sie das Licht, das durch die hohen Fenster fiel. Der Raum wurde vorübergehend dämmrig; draußen hatte sich plötzlich eine dichte Wolke vor die Sonne geschoben. Ihre Haut sog das Licht auf, das sich über sie ergoss, wie ein Schwamm eine Flüssigkeit aufsaugt. Als ihr Körper so viel aufgenommen hatte, wie er konnte, fiel das Licht mitten durch ihr Fleisch und begann es aufzulösen, von den Fingerspitzen durch die Hände bis hoch in die Arme. Die Umrisse verweilten noch in der Luft wie ein schwacher Heiligenschein, dann verschwanden sie zusammen mit dem Blut.
    Ich wandte mich ab. Wollte den Rest nicht mit ansehen. Die Brüste, der Hintern, die Beine, ihr Gesicht. Als ich wieder hinschaute, war sie in den Staubpartikeln der Luft verschwunden. Eine Fliege begann zu summen und prallte gegen die Fensterscheibe.
    Sublimation: unmittelbarer Übergang eines festen Stoffes in den Gaszustand.
    Sublimieren: einen Trieb oder Impuls von der

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