Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
Vom Netzwerk:
primitiven Form in eine sozial oder kulturell akzeptablere umsetzen.
    Sublim: von erhabenem geistigen, intellektuellen oder moralischen Wert.
    Ich nahm die Rasierklinge mit in mein Zimmer. Es war kein Blut daran. Ich legte sie in meine Schreibtischschublade zu den Fotos und Briefen. Ich zog die Kommode von der Tür weg. Sie würde nichts nützen.
27. April
Sechs Uhr morgens
    Ich stehe unter einem riesigen Baum. Der Stamm ist so dick, dass ich nicht mit den Armen herumreiche. Der Wind stöhnt in den Wipfeln, verfängt sich in den Nadeln. Er klingt wie heftiger Regen, aber ich bin trocken. Ich lege den Kopf zurück, kann aber den Wipfel des Baums nicht sehen. Ich zähle die weichen Nadeln in jedem Bündel: Es sind fünf. Ich untersuche die langen, geschwungenen braunen Zapfen und die graue, gefurchte Rinde. Es ist eine Mastbaumkiefer. Ich drehe mich um, will es meinem Vater erzählen. Er wird sich freuen, dass ich es weiß.
Mittagszeit
    In der Pause habe ich mich oben ins Schulbüro geschlichen und bin den Ordner mit den Stundenplänen sämtlicher Schülerinnen durchgegangen. Ich wartete im Flur, bis Miss Weiner aus dem Büro kam. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum die Seiten umblättern konnte. Sie hat jeden Tag erst ab elf Uhr Unterricht. Sie muss vorher in die Versammlung, doch danach hat sie zweieinhalb Stunden frei. In dieser Zeit schläft sie. Sie braucht nicht viel Schlaf.
Ruhezeit
    Ich bin den ganzen Tag durch die Flure gelaufen und habe nur direkt vor mir auf den Boden geschaut. Ich wollte ihn nicht sehen. Wenn sich unsere Blicke begegneten, würde er alles aufgeben: seine fröhliche Frau, die bei der Familienberatung arbeitet und gegen die Rassentrennung demonstriert hat, die graue und die Schildpattkatze, die Möbel von der Heilsarmee, das Baby, das uns vom Sofa aus zusah, seine Gedichte. Er würde es aufgeben und mich mitnehmen.
28. April
Mittagszeit
    Als ich nach dem Frühstück mein Bett machte, kam Mrs. Halton ins Zimmer und sagte, ich solle nachmittags direkt nach dem Unterricht zu Miss Brody kommen. Mrs. Halton stand jenseits der Schwelle, sehr darauf bedacht, keinen Fuß in mein Zimmer zu setzen. Sie sah wütend und angewidert aus. Sie machte sich keine Mühe, es zu verbergen.
    Sie wollen seit Jahren, dass ich mit Miss Brody rede, doch bisher habe ich mich immer geweigert. Jetzt befehlen sie es mir. Sie ist ein totaler Reinfall. Sie gibt nur Platitüden von sich, von wegen wir müssten unser innerstes Selbst berühren, obwohl sie keine Ahnung hat, was das sein soll. Warum ist sie überhaupt Schulpsychologin? Sofia ist der einzige Mensch, der sie leiden kann, aber sie würde mit jedem Erwachsenen über ihre Probleme sprechen. Miss Brody hat es unheimlich gern, wenn Mädchen sich ihr anvertrauen. Dabei hört sie ihnen gar nicht richtig zu.
Ruhezeit
    Zuerst lief es wie erwartet. Miss Brody wollte mit mir über den Selbstmord meines Vaters sprechen, über meine unverarbeiteten Gefühle für ihn. Sie schien begierig, etwas darüber zu erfahren. Wie hatte er es getan? »Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Auf beiden Seiten.« Wie hatte ich mich gefühlt? »Seltsam.« Es gab eine andere Frau, oder? »Nein.« Und wer hatte ihn gefunden? »Meine Mutter.« Hatte ich ihn gesehen? »Man hielt mich fern.«
    Lügen, Wahrheit. Sie konnte sie nicht unterscheiden.
    Dann fragte sie mich nach meinen anderen Besuchen bei Psychiatern. Einer fand unmittelbar nach dem Tod meines Vaters statt, der andere, als ich noch klein war. Woher weiß sie das? Meine Mutter hätte es der Schule niemals erzählt. Ich wollte nicht über die anderen Dinge sprechen. Ich hatte ihr schon genug gesagt. Sollte sie doch selbst durchs Schlüsselloch gucken. Ich wollte sowieso nie mit den Ärzten reden. Ich sagte immer wieder, ich sei nur etwas angespannt, alles sei in Ordnung. Aber sie gab sich nicht damit zufrieden. Fragte immer weiter.
    Miss Brody ist ein durch und durch konventioneller Mensch. Sie trug schwarze Pumps, ein marineblaues Kleid mit Goldknöpfen und ein blaugolden geblümtes Halstuch. Ihr dunkles Haar ist immer perfekt frisiert, und sie spricht ganz langsam und sorgfältig, als könnte ihr Gegenüber die einfachsten Dinge nicht verstehen.
    »Wir müssen mit unseren tiefsten Gefühlen zurechtkommen, sie auch dann akzeptieren, wenn sie uns Schmerz zufügen. Es ist harte Arbeit, doch nur so können wir sie überwinden. Sonst verfangen wir uns immer wieder darin.«
    Im Grunde waren ihr Gefühle, in denen man sich

Weitere Kostenlose Bücher