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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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du brauchen kannst. Scharfe Zähne, scharfer Verstand, und eine dunkle Höhle, in der du dich immer verstecken kannst.«
    Einen langen Moment blickte sie ihn starr an. »Ich liebe dich, Chang An Lo«, sagte sie schlicht.
    Erst später, nachdem sie den Teppich zum Kofferraum des Wagens geschleppt hatten und zu dritt durch die finsteren Straßen Moskaus fuhren, dachte er über das nach, was Lydia gesagt hatte. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass sie gar nicht ihre Mutter gemeint hatte, sondern sich selbst.
    Im Wald war die Frau nervös. Chang hörte sie neben sich atmen, flach und abgehackt. Jedes Mal, wenn sich im Mondlicht irgendwelche Schatten auf sie zubewegten, zuckte sie zusammen und bewegte sich so behutsam vorwärts wie ein Reh. Als über ihrem Kopf eine Eule schrie, erstarrte sie. Die edle Dame mit den scharlachroten Lippen, die ihm im Salon des Hotels Metropol so gleichgültig zugelächelt hatte, wirkte hier, weit weg von den Kandelabern und Zigarren, vollkommen fehl am Platz. Sie hielt sich direkt hinter ihm, stieß immer wieder kleine Seufzer aus und murmelte vor sich hin. Lydia marschierte mit entschlossenen Schritten neben ihm her, stapfte unter dem schwarzen Baldachin aus Kiefernzweigen über die schneebedeckten Spurrillen, die Augen groß und aufmerksam. Ab und zu hob sie schnüffelnd das Gesicht, wie eine Füchsin, die in der Nachtluft vorsichtig Witterung aufnahm.
    Der Tote war schwer. Er lag über seiner Schulter, immer noch in den Teppich gehüllt, und brachte ihn mehrfach ins Straucheln, wenn er über Äste stolperte. Die Frau versuchte ihm zu helfen, war jedoch eher lästig, weil sie ihn ständig am Ärmel zupfte oder sich an seiner Kleidung festhielt. Lydia vermied es, Wolfsauge zu berühren, und selbst in der Dunkelheit konnte er spüren, wie angewidert sie war. Und dass sie diesen Mann nicht berühren wollte.
    »Hier, das wird reichen.« Lydia sagte es schnell, weil sie Chang möglichst bald von seiner unheilvollen Last befreien wollte.
    Doch da ergriff die Frau das Wort. Ihre Stimme klang brüchig in der eisigen Stille des Waldes. »Nicht hier, noch nicht, hier ist es noch nicht tief genug im Wald.«
    »Antonina«, sagte Lydia so sanft, dass der Wind ihre Worte fast verschluckt hätte. »Wir sind hier weit weg von der Straße. Niemand wird hierherkommen.«
    Mithilfe der Ehefrau legte Chang den Toten auf den Boden, und sie ging sofort daneben in die Hocke, legte die Hand auf den Teppich, als zögerte sie, ihre Besitzrechte an dem, was er enthielt, aufzugeben. Niemand sagte etwas. Chang ließ seine Schultern kreisen, um die Rückenmuskeln zu entspannen, und schaute sich um. Dieser Platz war so gut wie jeder andere. Er nahm die Schaufel, die Lydia getragen hatte, und begann zu graben.
    Er ging mit einem regelmäßigen Rhythmus zu Werke, doch kaum hatte er den Schnee durchdrungen, war es so, als wollte er Fels aufgraben: Die Erde war fest gefroren. Seine Sehnen waren beim Graben bis zum Zerreißen gespannt, aber Chang gab nicht auf. Es war nicht das erste Mal, dass er im Wald einen Toten vergrub oder einen gefallenen Kameraden vom Schlachtfeld trug; wohin auch immer er sich wandte, in welchem Land auch immer er war, schien der Tod ihn auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Während er weitergrub, stieg Traurigkeit aus dem Boden, und mit jeder Schaufelbewegung wurde der Gestank des Todes stärker. Da hockte sie, die Traurigkeit, und er atmete sie tief ein, bis seine Lungen schmerzten.
    »Genug«, murmelte Lydia.
    Er blickte überrascht auf. Fast hätte er vergessen, dass er nicht allein war. Sie stand abseits unter den Bäumen, beobachtete genau sein Tun. Ihr Gesicht lag im Schatten, vor ihm verborgen.
    »Genug«, sagte sie wieder. »Es reicht.«
    War es das Grab, das sie meinte? Oder war es der Tod, dessen sie überdrüssig war?
    Die Frau kniete nach wie vor neben dem Teppich, den Kopf gebeugt. In der Dunkelheit sah es so aus, als hätte sie sich für immer dort unten auf dem Waldboden niedergelassen, und er fragte sich, ob es ihr wohl lieber gewesen wäre, wenn sie diejenige wäre, die allein in der kalten Erde zur Ruhe gebettet wurde. Er warf die Schaufel auf den Boden und streckte die Hand nach dem Teppich aus, doch in diesem Moment hallte ein lautes Krachen durch den Wald, und die Frau sprang erschrocken auf, die Augen weit aufgerissen. Im Mondlicht sahen sie so aus, als wäre jegliche Farbe daraus gewichen.
    »Ein Elch«, sagte er und hörte, wie sie einen Seufzer der Erleichterung

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