Die Sehnsucht der Konkubine
Dich vor Verrat in Acht nehmen. Zu viele Menschen wissen, was du tust.«
»Außer meinem Vater. Jens Friis weiß es nicht.«
Mit einer abrupten Bewegung setzte sich Chang auf und strich Lydia das Haar aus dem Gesicht. Ihre Pupillen waren riesig, als sie ihn anschaute, und ihr Mund sprach Bände. Entschlossen drückte sie ihn auf das Bett zurück und legte sich auf ihn, die Hände flach auf seine Brust gedrückt.
»Mein Geliebter«, murmelte sie. »Wie kann ich dir für mein Leben danken?«
»Indem du darauf aufpasst.«
Während ihre Hüften sich zu bewegen begannen, stieg in ihm die Sehnsucht auf, sie aus Moskau wegzubringen. Weg von ihrem Vater, ihrem Bruder, von der Frau mit ihrem toten Mann. Und weg von sich selbst.
EINUNDFÜNFZIG
Ü ber Nacht war Schnee gefallen und hatte das Gefängnis in ein riesiges Fabelwesen verwandelt. Seine Dächer und Fensterbänke, sein Innenhof und sogar die Steinbank glitzerten im Flutlicht des frühen Morgens wie Perlen an einem Hochzeitstag. Jens hasste das. Eine solche Heuchelei. Wie konnte etwas mit einem so hässlichen Inneren so wunderschön aussehen? Er marschierte mit seinen Kameraden im Kreis, den Kopf gesenkt, niemand redete. Schneeflocken blieben in seinen Wimpern hängen und schmolzen auf seinen Wangen wie Tränen. Vor ihm geriet Olga ins Stolpern, und den Bruchteil einer Sekunde griff er nach ihrem Ellbogen, um sie zu stützen. Der Knochen fühlte sich so zerbrechlich an wie die Schwinge eines Spatzen.
»Berühren verboten!«, schrie Babitski.
Jens murmelte vor sich hin. »Irgendwann, Babitski, das schwör ich dir, komm ich und berühre dich.«
»Jens«, flüsterte Olga, ohne sich herumzudrehen. »Tu’s nicht. Dieser Unmensch ist es nicht wert.«
»Mir schon.«
Er hatte ihr nicht erzählt, dass der große Mann, der am Tag zuvor im Hof erschossen worden war, sein Freund gewesen war. Dass sie in den goldenen Tagen der Zarenherrschaft in den Ställen des Winterpalastes zusammen Karten gespielt hatten, dass sie sich wegen eines Mädchens gestritten und sich wegen eines Pferdes im Armdrücken gemessen hatten. Dass sie sich gegenseitig ihre Wunden verbunden und das Leben gerettet hatten. Nein, von alldem hatte er ihr nichts gesagt. Er setzte die Füße auf den weißen Teppich auf, der ihre Stiefelschritte so sehr dämpfte, als wären die Gefangenen gar nicht real, sondern durchsichtig und geräuschlos. Wie Geister einer Vergangenheit, die schon lange verschwunden war. Wie hatte er sich nur einbilden können, je noch einmal in diese reale Sowjetwelt hineinzupassen? Er musste verrückt gewesen sein.
Er blinzelte an den gelben Gefängnislichtern vorbei in die schwarzen Wolken empor, wo der Mond und die Sterne funkelten wie ferne Juwelen auf einem schwarzen Tuch. Außer Reichweite. Seine Tochter, die ebenfalls außer Reichweite war, kam ihm in den Sinn, und er spürte wieder jenes dumpfe Stechen in seiner Brust, das er, seit ihre Briefe kamen, gelernt hatte, mit einem einfachen Trick in seinem Denken im Keim zu ersticken. Doch jetzt wollte es einfach nicht weggehen. Da saß es, als hätte ihm jemand einen Nagel ins Herz getrieben und ihn stecken lassen, bis er verrostete.
Er war derart in seine Gedanken vertieft, dass er nicht einmal aufblickte, als sich die Tore des Gefängnishofes mit einem lauten Quietschen öffneten und einen Moment lang das Rauschen des morgendlichen Verkehrs von draußen hereinließen. Briefe würde es keine mehr geben, da war er sich sicher. Dumpf vernahm er das Klingeln des Pferdegeschirrs, hörte den Bäcker ob der Kälte grummeln, nahm das Klappern der Metalltabletts und den verlockenden Duft frischgebackenen Brotes wahr. Dennoch konnte er es nicht ertragen, einen Blick in die Welt jenseits ihrer Begrenzung zu werfen.
»Jens.« Das war Olga. Ein hastiges Flüstern. »Schau mal.«
Er sah sie an, blickte dann durch den Zaun und sah ein Mädchen. Es trug ein Tablett mit Piroggen auf dem Kopf und betrat in diesem Moment das Gebäude. Alles, was er erkennen konnte, war ihr langer, gerader Rücken, die Art, wie sie mit der geschmeidigen Anmut einer Katze über den Schnee schritt. Eine unansehnliche Mütze. Aufblitzendes knallrotes Haar auf dem Kragen.
»Lydia! Lydia! Lydia!«
»Weitergehen, Gefangener Friis!«, brüllte einer der Wärter.
Erst in diesem Moment wurde Jens bewusst, dass er in zwölf Jahren Arbeitslager gelernt hatte, seine Zunge zu zügeln. Seine Schreie waren stumm geblieben, nur ein Widerhall in seinem Kopf.
»Bewegung,
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