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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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Friis!«
    Er ging weiter, einen Schritt nach dem anderen, bemühte sich, es mühelos aussehen zu lassen. Vor ihm schaute ihn Olga blitzschnell über die Schulter hinweg an, aus ihren Augen sprach Sorge. »Schau nur«, flüsterte sie und nickte rasch.
    Diesmal musste er sich das nicht zweimal sagen lassen. Ganz am anderen Ende des Gefängnishofes, in einer Entfernung von mehr als vierzig Metern, ging die kleine Tür ins Gefängnis auf. Er richtete seine Aufmerksamkeit darauf. Plötzlich war sie wieder da und schlenkerte den Arm mit dem leeren Tablett, als könnte sie kein Wässerchen trüben, rank und schlank, wie eine Katze. Selbst nach all diesen Jahren erkannte er sie sofort. Ein zartes, herzförmiges Gesicht, bei dessen Anblick er am liebsten geweint hätte. Es war blass bis auf eine dunkel verfärbte Prellung in der Mundgegend, und sie hatte die vollen, sinnlichen Lippen ihrer Mutter. Und sie war gut in dem, was sie tat: nicht einmal die Andeutung eines Blickes in seine Richtung.
    Stattdessen schenkte sie dem Wärter ein scheues Lächeln, tätschelte das Pferd, warf einen Blick auf die Steinbank, ging zum hinteren Teil des Wagens hinüber und ließ erst dort kurz den Blick zu den Gefangenen und zu Jens schweifen. Ihre Augen begegneten sich. Einen Herzschlag lang erstarrte sie. Während er sie anschaute, zerbrach etwas in ihm, und fast hätte er sich gegen den Maschendrahtzaun geworfen und ihren Namen gerufen. Wie gern hätte er in diesem Moment die Finger seiner Tochter berührt, ihr ein Küsschen auf die Wange gegeben, hätte mit einem Blick in ihre großen, leuchtenden Augen ihren Verstand ausgelotet.
    Ihre Lippen bewegten sich. Es war fast ein Lächeln.
    »Friis!«, schrie Babitski. »Wie oft soll ich das noch sagen? Weitergehen!«
    Jens war wieder stehen geblieben. Mit gewaltiger Willensanstrengung gelang es ihm weiterzugehen, und er beobachtete, wie seine Tochter an den Karren des Bäckers zurückkehrte, das leere Tablett gegen ein volles eintauschte und noch einmal durch die Tür tapste. Verzweifelt bemühte er sich, klar zu denken, doch er konnte ja nicht einmal klar schauen. Tränen waren in seine Augen getreten, und seine Brust fühlte sich an, als würde sie gleich zerspringen. Oder bersten. Es machte keinen Unterschied. Sie schmerzte vor Glück.
    »Jens.«
    Er musste sich anstrengen, um herauszufinden, aus welcher Richtung die Stimme gekommen war.
    »Jens, ich bin’s, Olga.«
    Er löste den Blick von der Tür. Olga sah ihn verstohlen über ihre Schulter hinweg an.
    »Ist sie das?«, hauchte sie. »Ist das Lydia?«
    Das Rasen seiner Gedanken hörte abrupt auf. Hatte er ihr von seiner Tochter erzählt? Er konnte sich nicht erinnern. Zu nicken wagte er nicht. Wenn er in diesem Moment einen Fehler machte, dann würde vielleicht alles dahin sein, und seine Lydia würde nie mehr wiederkommen. Er ließ es zu, dass die Schneeflocken sich auf seine Augenlider setzten, und biss sich auf die Zunge.
    Er wartete eine Ewigkeit. Ein weiteres Leben lang. Das Herz drohte ihm die Rippen zu zersprengen, und die Angst um Lydia war scharf wie Säure in seinem Mund. Doch als sie erneut heraustrat, verschwand das alles, und er verspürte nur noch eine Welle des Glücks, die ihn erfasste, heiß und flüssig unter seiner Haut. Während sie sich der Bank näherte, fiel das Tablett klappernd zu Boden, und sie kauerte sich mit einem bedauernden Lächeln in den Schnee nieder, um es wieder aufzuheben.
    Ihre Hand war schneller als eine Schlange.
    Liebster Papa,
    heute werde ich Dich sehen. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie glücklich mich das macht. Glücklich und überwältigt. Ich hab Dich vermisst. Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich Dich vermisst, und der Gedanke, Dich heute zu sehen, mein geliebter Vater, ließ diese Nacht die Stunden nur mühsam und langsam vergehen.
    Wie soll ich es bloß schaffen, nicht zu Dir hinzulaufen? Von dem Jungen habe ich erfahren, dass Du hinter einem Zaun sein wirst, aber was, wenn meine Füße mir nicht gehorchen? Ich werde die Arme um Dich legen wollen, Papa, doch das wird nicht möglich sein, weshalb Du Dir einfach vorstellen musst, wie es ist, wenn Deine Tochter zu Dir zurückkehrt.
    Da ist etwas, das ich Dir sagen muss. Alexej und ich sind zu dem Wald mit der geheimen Lichtung gefahren, wo Du arbeitest, und ich habe die Mauer gesehen. Habe die Hangars gesehen. Ich glaube, auch Dich gesehen zu haben, aber mein Bruder meinte, das hätte ich mir nur eingebildet, weil ich es mir so sehr

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