Die Sehnsucht der Konkubine
Hand an seine Lippen, küsste ihre Innenseite, dann jeden einzelnen Finger, und hielt sie sich an die Wange. »Nein, meine Lydia.« Er lächelte sie an. Sein Lächeln war so voller Hitze, dass sie es auf ihrer Haut spüren konnte. Es taute etwas von der Kälte und von der Angst in ihr weg. »Du lagst nicht im Sterben. Du bist unzerstörbar. Du wolltest mich nur auf die Probe stellen.«
Seine Stimme füllte ihren Kopf aus. Er beugte sich vor, wobei er immer noch ihre Hand hielt, als wäre sie ein Teil von ihm, und schmiegte seine Stirn in ihre Halsbeuge. So blieb er lange Zeit liegen, ohne sich zu rühren, ohne etwas zu sagen. Sein schwarzes Haar wurde warm an ihrer Wange, und sie spürte, wie der Faden, der sie miteinander verband, straffer wurde, gleich einem seidenen Strang, der durch ihr Fleisch, durch ihr Blut und durch die Knochen ging.
»Chang An Lo«, murmelte sie. »Wenn du jemals vorhast zu sterben, dann verspreche ich dir, dass ich komme und dich hole.«
Der Raum war voller Menschen. Weiße, heiße Funken schienen in der Luft zu tanzen, sie beständig in Bewegung zu versetzen. Lydia saß aufrecht im Bett, obwohl sie sich nichts so sehr wünschte, wie in jenes schwarze Loch zurückzugleiten. Man hatte ihr das mit Jens gesagt.
Sie hatte »Nein!« geschrien und war dann still geworden. Hatte den Schmerz zu einem harten Ball zusammengeknüllt.
Sie stellte sich Jens inmitten der Ruinen seiner großartigen Träume vor, den stolzen Kopf mit dem weißen Haarschopf durch eigene Hand am Boden zerschmettert, als sein letztes Opfer. Nein, Papa. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, wollten nicht versiegen. Als sie sie wegwischen wollte, fiel ihr Blick zum ersten Mal auf ihre Hand. Sie war zu einem hässlichen Rot verbrannt und mit einer schmierigen Heilpaste bedeckt.
»Das ist widerlich«, murmelte sie.
Jemand lachte, und sie wusste, es war ein Lachen aus Erleichterung, denn eine verbrannte Hand war so viel besser als ein verbranntes Leben. Es war ihr Scheitern, das sie anwiderte. Papa, es tut mir leid. Verzeih mir. Schwarze Punkte schwammen an den Rand ihres Gesichtsfeldes, und auf einmal hatte sie das Übelkeit erregende Gefühl, es seien Teile des schwarzen Lochs, das ihr gefolgt war, weil es einfach nur wartete, bis seine Zeit gekommen war. Es gab Worte, die sie aussprechen musste.
»Ich möchte euch danken, euch allen«, sagte sie. »Für eure Hilfe.« Ihre Stimme war rau, kaum als die ihre zu erkennen.
»Wir hätten es fast geschafft.« Das war Alexej.
»Jens war dankbar«, flüsterte sie. »Das hat er mir gesagt.« Jetzt tauchten Jens’ Worte wieder aus dem schwarzen Tümpel ihrer Erinnerung auf, und Lydia wusste, dass Alexej nicht ihr Bruder war – und es auch nie gewesen war.
Popkow sah müde und erschöpft aus. Er spielte mit Edik auf dem anderen Bett Karten, während Misty auf dem Kissen lag und an einer stinkenden Socke von Popkow herumkaute.
»Ihr habt euch gefunden«, brummelte der Kosak. »Am Ende waren Jens und du zusammen.« Er warf seine Karten verärgert auf das Bett, weil er offenbar verloren hatte, und zuckte mit den breiten Schultern. »Das ist es, worauf es ankommt.« Er mischte die Karten neu.
Lydia nickte. Brachte keinen Ton heraus.
Alexej blieb am Fußende ihres Bettes stehen. »Er hat Recht, Lydia. Dich hierzuhaben hat ihm bestimmt alles bedeutet.«
»Mir auch«, murmelte sie. »Aber es war zu spät, um ihn aufzuhalten. Er hatte beschlossen, das zu zerstören, was er erschaffen hatte, um die anderen Gefangenen zu retten, koste es, was es wolle.«
Alexej trat unruhig von einem Bein aufs andere, und sie spürte seine Verärgerung ebenso wie die Tiefe seines Verlangens. Sie musste ihm etwas geben. »Alexej, er hat dich geliebt«, sagte sie schlicht. »Jens hat es mir gesagt. Als ich ihn auf meinem Rücken dort hinausgetragen habe, machte er sich Sorgen um dich.«
Alexejs grüne Augen, die so sehr denen ihres Vaters ähnelten, schauten ihr direkt ins Gesicht, und sie konnte deutlich erkennen, dass er nicht wusste, ob er ihr glauben sollte oder nicht. Doch sie war zu erschöpft, um gegen seinen Zweifel anzukämpfen, und schloss die Augen.
»Ich möchte mit Elena sprechen«, sagte sie flüsternd. »Allein.«
Betretenes Schweigen. Doch als sie die Augen wieder aufschlug, hatte sich die Luft in dem Raum gelegt wie Staub, und er war leer bis auf das Gefühl von Changs Lippen auf ihrer Stirn und die große Frau, die am Fußende ihres Bettes saß.
Chang fühlte sich unwohl auf
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