Die Sehnsucht der Konkubine
ging. Um den Brand? Das Wetter? Um die letzte Kirche, die auf Stalins Befehl in die Luft gesprengt werden sollte? Vielleicht um sie? Die beiden Männer standen mit dem Rücken zum Fenster, so dass Lydia ihre Gesichter nicht sehen konnte, doch ihre Augen blieben an der entschlossenen Haltung von Changs Schultern hängen, an der Anspannung in seinen langen Gliedern. Eine Frau aus einer der Wohnungen zerbrach Eis vor der Wasserpumpe im Hof und blieb mit einem Lächeln im Gesicht stehen, um den Possen von Misty zuzuschauen. Popkow hatte dem Hund eine Schnur um den Hals gebunden und brachte ihm gerade bei, mit Edik bei Fuß zu gehen. Lydia hatte gar nicht gewusst, wie gut er mit Hunden umgehen konnte, und erst jetzt fiel ihr auf, wie müde er aussah. Eine Welle der Zärtlichkeit für den großen Mann, der ihrem Vater beinahe die Freiheit gebracht hätte, erfasste sie. Ach, Liew, mein Freund, es tut mir leid, wenn ich zu viel verlangt habe. Selbst von hier aus kann ich deutlich erkennen, was dir das alles abverlangt hat.
Ein leises Seufzen entrang sich der Kehle der Frau an ihrer Seite, ihr Atem beschlug die Scheibe, und einen Moment lang war das Bild des Jungen mit seinem Hund ganz verschwommen.
»Er hat mich gebeten, mit ihm in die Ukraine zu gehen und mit ihm zusammenzuleben.«
»In die Ukraine?«
»Irgendwo in der Nähe von Kiew. Dort hat er gelebt, als er noch ein Junge war.«
»Ist Liew denn jemals ein Junge gewesen?«
Einen flüchtigen Moment lang lächelte Elena. »Ist schwer sich vorzustellen.«
»Wirst du mit ihm gehen?«
Elena sah Popkow dabei zu, wie er sich über den Hund beugte und auf ihn einredete. »Er macht sich Sorgen um dich.«
»Das muss er nicht.«
»Ich weiß.«
»Liebst du ihn?«
»Ha! Wenn du erst mal in meinem Alter bist und mehr Männer gehabt hast als warme Mahlzeiten, dann ist die Liebe nicht mehr das, wofür du sie hältst, Lydia.«
Lydia wischte die Fensterscheibe mit einer Hand ab. Die Ukraine. Ach, Liew, das ist eine Weltreise von hier entfernt.
»Ja«, gab Elena endlich zu. »Ich vermute, dass ich den tumben Kerl wirklich liebe.«
Sie lächelten beide.
»Dann geht in die Ukraine. Ich werde niemandem etwas verraten und …« Sie sprach ihren Satz nicht zu Ende.
»Und du? Wohin wirst du gehen?«
Bei der Frage wurde Lydias Kehle ganz eng, und sie begann zu husten, schmeckte immer noch Rauch in ihrem Mund.
»Pass auf, deine Naht. Geh zurück ins Bett.«
Elena half ihr, sich zum Bett zurückzutasten, doch Lydia griff auf einmal fest nach dem fleischigen Arm und ließ ihn nicht mehr los. Sie zog die Frau an sich. »Elena«, sagte sie heftig, »wenn du ihm wehtust, dann komme ich und reiß dir das Herz aus dem Leib.«
Einen Moment lang starrten sie sich nur an, dann nickte Elena, diesmal ohne zu lächeln.
»Du hast meine Erlaubnis, das zu tun«, sagte sie.
Lydia lockerte ihren Griff, doch plötzlich sah sie etwas im Gesichtsausdruck der Frau, eine Unsicherheit, die sie veranlasste zu fragen: »Was ist los, Elena?«
Es kam keine Antwort.
Lydias Herz klopfte heftig.
»Du musst hier raus, Mädchen. Ob verletzt oder nicht.«
»Warum?«
»Weil sie dich heute holen werden.«
»Wer?«
Doch sie brauchte gar nicht zu fragen. Schon warf sie die Decke von sich, schwang die Beine auf den Boden. Ihr Verstand und ihr Herz rasten.
»Wer?«, wiederholte Elena ihre Frage. »Diese Scheißkerle von der OGPU , natürlich. Die Geheimpolizei.«
SECHSUNDFÜNFZIG
L ydia legte den Kopf an Chang An Los Schulter und konzentrierte sich darauf, ein Bein vor das andere zu setzen. Er war mit ihr kreuz und quer durch die Stadt unterwegs, den Arm fest um ihre Taille gelegt, und hielt sie auf den Beinen, bis er sicher sein konnte, dass wirklich niemand ihnen durch die verschneite Stadt folgte.
Als er sie endlich zu ihrem kleinen Versteck gebracht hatte, demjenigen, das an die Stelle des Zimmers mit dem Kruzifix getreten war, taumelte sie durch die Tür und löste zum ersten Mal ihren festen Griff. Sie holte langsam und tief Luft, um den Schmerz in ihrer Seite in Schach zu halten, und nahm ihre Mütze ab. Doch als sie in den Spiegel an der Wand blickte und zum ersten Mal seit dem Brand ihr Haar sah, wurde sie vor Entsetzen tiefrot im Gesicht. Es war schrecklich. Ein ganzer Teil des Haarschopfes war verbrannt, der Rest war schwer verkohlt. Mit den Brandblasen auf ihrer Stirn sah sie wie eine Vogelscheuche aus.
»Schneid es ab«, sagte sie.
»Ruh dich zuerst aus«, widersprach Chang. »Du bist
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