Die Sehnsucht der Konkubine
immer es war. Sie schwankte, ihre Lungen schrien nach Sauerstoff, und sie machte einen mühseligen Schritt vorwärts. Sie wussten beide, dass es nur einen Ausweg aus diesem Inferno gab, wenn sie rannten, doch rennen konnte sie nicht. Nicht mit ihrem Vater auf dem Rücken. Ein weiterer Schritt.
»Lass mich runter, Lydia«, befahl er ihr. »Ich liebe dich dafür, dass du zu mir gekommen bist. Aber jetzt lass mich runter.«
»Alexej war auch da.« Noch ein Schritt. »Er hat den …« – drei weitere Schritte, jedoch ein jeder davon kürzer als der vorige – »den Lastwagen gestoppt.«
»Warum?«
»Weil du … weil du sein Vater bist.«
Eine Flammenwand baute sich vor ihr auf. Das war’s. Dort musste sie hindurch. Sie wandte den Kopf zur Seite. »Bereit?«
Er küsste sie auf die Wange. »Lydia, ich bin nicht Alexejs Vater.«
Chang würde nicht aufgeben. Er würde sie finden. Oder sterben. Etwas dazwischen gab es nicht. Ohne Unterlass rief er ihren Namen, doch die Flammen verschluckten seine Rufe. Der Rauch erstickte alles Leben. Er spürte, wie es in seinen Lungen erstarb, und seine Angst um Lydia zerriss ihm das Herz.
Die Götter hatten ihn gewarnt. Sie hatten ihm das Omen gesandt, aber er hatte sich geweigert, auf sie zu hören. Er hatte es zugelassen, dass Lydia mit ihm über die Mauer stieg, und jetzt musste er dafür bezahlen, dass er dem Murmeln der Götter kein Gehör geschenkt und seine Wünsche und Begierden nicht im Gleichgewicht gehalten hatte. Damit konnte er leben, aber er konnte es nicht ertragen, dass Lydia dafür sterben sollte.
Er rief nach ihr. Er brüllte ihren Namen ins Feuer, und die Flammen erwiderten sein Gebrüll, jedes Knistern und jedes Knacken war, als würden sie ihm ins Gesicht spucken. Jenseits des Infernos, das um ihn herum wütete, konnte er nichts erkennen, in welche Richtung er sich auch drehte, und dann wurde ihm ganz plötzlich bewusst, dass er mit den falschen Sinnen schaute. Augen konnten trügen, sie konnten einen Menschen in Verwirrung und Schrecken stürzen. Also schloss er sie. Er saß vollkommen still da und stieß ganz langsam das Gift aus seinen Lungen aus.
Wieder lauschte er, auf der Suche nach ihr. Doch dieses Mal hörte er mit seinem Herzen.
Lydia wusste, dass ihr Haar brannte. Jens bewegte sich nicht mehr auf ihrem Rücken. Trotzdem schleppte sie sich weiter, einen schmerzhaft langsamen Schritt nach dem anderen, weigerte sich, mit den Knien einzuknicken, obwohl sie sehr wohl wusste, dass Jens wahrscheinlich ebenfalls brannte. Ihr Verstand funktionierte nicht mehr richtig. Sie hatte die Kontrolle über ihre Arme und Beine verloren, und allmählich arbeiteten auch ihre Lungen nicht mehr richtig. Selbst wenn sie gewollt hätte, schreien hätte sie nicht mehr gekonnt. Wie es kam, dass sie immer noch auf den Beinen war, dass sie sich immer noch durch einen Tunnel aus Flammen und Rauch kämpfte, der einfach nicht enden wollte, wusste sie nicht. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie tot war und das hier die Hölle.
Chang, mein Geliebter, ich habe mich nicht von dir verabschiedet. Ich habe dir nicht gesagt, dass ich dich liebe. Dieser Gedanke wuchs und wuchs in ihr, bis er ihren gesamten Verstand erfüllte, weshalb sie, als sie seine Stimme hörte, nicht wusste, ob sie aus ihrem Kopf kam oder von draußen. Doch da waren Hände, die ihren Vater von ihrem Rücken hoben, und ein starker, vertrauter Arm, der sich um ihre Taille legte, sie stützte. Mochte sie auch tot sein und in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren: Es war nicht mehr wichtig, denn Chang An Lo war an ihrer Seite.
Die vergangenen Momente verschwammen, und sie merkte, dass sie unkontrollierbar zu zittern begonnen hatte. Jemand versetzte ihr mit Riesenpranken kleine Schläge an den Kopf, und das Jucken und Brennen hörte auf. Vage nahm sie eine schwarze Augenklappe wahr und hörte jemanden lachen. Lachen? Wie konnte jemand lachen, wenn er tot war?
»Du solltest doch auf der anderen Seite der Mauer bleiben«, sagte Chang zu jemandem. »Du bist verletzt.«
»Ich hab mich gelangweilt. Du kannst den Spaß nicht nur für dich allein haben.«
Es war Popkows dröhnende Stimme. Sie sah, wie Liew sich Jens’ schlaffen Köper über die Schulter warf, als handele es sich um eine Puppe, und auch sie selbst lag, ohne zu wissen, wie das gekommen war, über Changs Rücken. Sie schmiegte den Kopf an ihn und versuchte, Luft zu holen, doch alles, was sie in die Lungen bekam, war dicker, erstickender
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