Die Sehnsucht der Konkubine
erschöpft.«
»Bitte, schneid es ab. So kurz wie bei einem Jungen. Damit ich den … den Schaden nicht mehr sehe.«
Seine schwarzen Augen hatten sie nur einen Moment lang im Spiegelbild betrachtet, dennoch erfasste er den ganzen Schaden, auch den, der tief in ihrem Herzen angerichtet worden war, das wusste sie. Er hatte das tiefe Loch gesehen, die Schuldgefühle, die Ängste, und sie schämte sich dafür. Ganz leicht küsste er sie seitlich auf das versengte Haar, zog das scharfe Messer aus seinem Stiefel und schnitt die erste Hand voll Haare ab.
»Besser?«, fragte er.
Sie nickte. »Es sind nur Haare. Nicht meine Arme oder Beine.«
Doch während er mit dem Schneiden fortfuhr, verzog Chang den Mund zu einem kummervollen Halbmond. Schließlich bückte er sich und barg die verkohlten kupferfarbenen Locken behutsam in den Händen, als wären sie eine Opfergabe für seine Götter. Eine Erinnerung an ihre Mutter, wie sie ihre eigene dunkle Haarpracht mit einer stumpfen Küchenschere abgeschnitten hatte, kam Lydia in den Sinn, und zum ersten Mal begriff sie. Dieses schreckliche Verlangen danach, sich selbst zu bestrafen. Das Gefühl der Erleichterung, das es mit sich brachte, die gleiche Erleichterung, die sie an dem ersten Tag, als sie sich in dem Gemeinschaftsbad des Hotels begegnet waren, in Antoninas Gesicht geblickt hatte.
»Chang An Lo«, flüsterte sie und fuhr zu ihm herum. »Sag mir, wo es dir wehtut.«
Seine Pupillen weiteten sich, während eine ganze Fülle von Gedanken ihn zu durchfluten schien. Purpurrote Flecken leuchteten in seinen Augen auf. »Meine Schultern.«
Das war nicht das, was sie gemeint hatte, und das wusste er. »Zeig’s mir.«
Er legte die abgeschnittenen Locken vorsichtig auf einen Stuhl und zog seine wattierte Jacke aus. Sie hatte mehrere braune Brandlöcher, und auch das Hemd darunter war in keinem besseren Zustand. Er zog es aus und kehrte ihr seinen nackten Rücken zu.
»Das sieht sehr bunt aus«, sagte sie. Rasch schlug sie die Hand vor den Mund, um all die anderen Laute, die sich ihrer Kehle zu entringen drohten, einzusperren.
»Bist du gut im Einreiben?«, erkundigte er sich.
»Ich bin eine Expertin. Finger so leicht wie Federn. Kannst du dich nicht erinnern?«
Er fuhr herum. »Ja, ich erinnere mich. Als könnte ich das jemals vergessen.«
»In dem Gartenschuppen in Tschangschu, als du verletzt warst und …«
Er schloss sie in seine Arme und legte sie sanft aufs Bett. »Psst, mein Liebes, versteck dich nicht wieder in der Vergangenheit.«
Mit unendlicher Zärtlichkeit zog er ihr alle Kleider aus, bis nur noch der Verband um ihre Taille übrig war, wo die Kugel seitlich in ihren Körper eingedrungen war. Doch trotz Elenas Stichen war hier alles in den Farben verdorbenen Obstes verfärbt, Rot und Braun und Orange. Er küsste sie auf die weiche Haut ihres Bauches und wickelte sie dann in die Bettdecke ein.
»Komm her und red mit mir«, murmelte sie.
»Schlaf zuerst, und dann reden wir.« Aus dem ramponierten alten Lederrucksack, den Lydia ihm vor so langer Zeit in China einmal geschenkt hatte, zog er eine kleine Flasche mit einer trüben Flüssigkeit und goss ihr behutsam einen Tropfen auf die Zunge. »Jetzt schlaf.«
Doch sie zwang sich dazu, sich noch einmal aufzusetzen. »Zuerst einölen.«
Sie streckte die Hand aus.
Er leistete ihr keinen Widerstand. Nun tauchte ein kleiner Keramiktopf aus dem Rucksack auf, und sie ließ Chang sich auf das Bett setzen, kniete neben ihm und schmierte sich die cremige Substanz auf die Finger. Dann massierte sie mit genau der Leichtigkeit einer Feder, die sie ihm versprochen hatte, die Tinktur in das rohe Fleisch seiner Schultern. Wie die Wunden entstanden waren, fragte sie nicht. Ein herabgefallenes Stück brennendes Holz? Ein glühend heißer Feuerschwall? Das spielte jetzt keine Rolle. Die Tinktur roch nach Kräutern, von denen ihr die Augen brannten, und sie spürte, wie ihr die Augenlider schwer wurden. Sie küsste die gesunde, saubere Haut in der Mitte seines Rückens, doch als sie gerade den Mund öffnen wollte, um ihm zu sagen, dass er der tapferste aller Männer auf Gottes weiter Erde sei, war sie bereits eingeschlafen, noch bevor die Worte ihr über die Lippen kamen.
Als sie aufwachte, war es dunkel. Der Nachthimmel klammerte sich an die Fensterscheibe, rüttelte daran, als wollte er hereinkommen. Lydia spürte Changs warmen Körper, der sich an sie schmiegte, wusste jedoch auf der Stelle, dass er hellwach war. Sie
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