Die Sehnsucht der Konkubine
Wachpostens saß, aber nicht mehr mit seinem ganzen Gewicht.
Babitski holte tief Luft und sagte hastig: »Das Büro des Lagers wird von Michail Wuschnew geleitet. Er kennt sie alle.«
»Wo finde ich diesen Wuschnew, wenn er in die Stadt kommt? Wohin geht er zum Trinken?«
»In der Kneipe …« Der Mann spuckte noch mehr Blut in den Schnee. »Unten bei der Reifenfabrik. Ist eine ziemliche Bruchbude, aber da gibt’s immer ein paar Kellnerinnen zum Vögeln.«
Alexej zückte ein Taschentuch aus seiner Manteltasche, wischte dem Mann das blutende Gesicht ab und stand auf, dankbar darum, nicht in seiner direkten Reichweite zu sein. Er warf das blutbesudelte Tuch ins Feuer und wünschte, er hätte auch den Rest dieser Nacht so leicht den Flammen überantworten können.
»Okay, lass ihn jetzt gehen.«
Zur Abwechslung tat Popkow wie geheißen.
Der Mann kam schwankend auf die Beine und fluchte. Alexej holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche, schüttelte zwei heraus, zündete beide an und reichte eine davon Babitski. Er sah, wie dem Mann das Blut auf die Zigarette tropfte.
»Scheißkerl«, ächzte Babitski und nahm einen tiefen Zug. »Und scheiß auf euch alle. Morgen bin ich weg aus diesem eisigen Scheißloch.«
»Wo gehst du hin?«
»Was geht dich das an?«
»Nichts.«
»Bin nach Moskau abbeordert.« Die aufgeplatzten Lippen verzogen sich zu seinem bitteren Lachen. »Also scheiß auf euch und eure Fragen.«
Alexej wandte sich ab. Er hatte genug gesehen. Und er hatte einen Namen: Michail Wuschnew. Bei ihm würde er anfangen. Und diesmal ohne den verdammten Kosaken.
ZWÖLF
L y dia legte sich auf ihr Bett zurück und dachte über die Abmachung nach, die sie mit Alexej getroffen hatte. Sie hatte versprochen, auf ihrem Zimmer zu bleiben, wenn er dafür Popkow heute Abend nicht von seiner Seite ließ, aber würde ihr Bruder sich an sein Versprechen halten? Ihre Nerven waren angespannt, ihre Augenlider brannten. Das war das Problem, wenn man mit Leuten Abmachungen traf – man wusste nie, wann der andere sie brechen würde. Sie schaute zur Zimmerdecke empor, an der sich ein feuchter Fleck in Form einer Giraffe ausgebreitet hatte. Wahrscheinlich befanden sich da oben ein paar lecke Rohre. Lecke Rohre waren wie Menschen mit losem Mundwerk – man konnte ihnen nicht trauen.
Dein Russisch ist ausgezeichnet. Ihr fielen wieder Elenas Worte ein und brachten das in ihre Erinnerung zurück, was sie einmal zu Chang gesagt hatte. Und sie murmelte sie jetzt wieder, die Worte von damals: »Dein Englisch ist übrigens ausgezeichnet.« Damals war es Sommer gewesen, und der Himmel über China war gewaltig, wie ein leuchtend blaues Seidentuch, das über ihnen gespannt war. Beim Gedanken daran musste sie lächeln und ließ sich ganz allmählich in der Erinnerung versinken, wie eine Biene, die gar keine andere Wahl hat, als dem überwältigenden Duft einer Orchidee zu folgen. Doch sie wehrte sich gar nicht. Diesmal nicht. Tag für Tag war sie hier in diesem kalten Russland dabei, sich eine Zukunft zu erschaffen, doch dieses Mal, nur heute Abend, gestattete sie sich das süße, fließende, köstliche Gefühl, in die Vergangenheit zurückzugleiten.
Chang An Lo hatte sie zum Eidechsenbach geführt, einem kleinen, von Bäumen bestandenen Wasserlauf im Osten der Stadt Tschangschu. Träge lag die Morgensonne auf dem Wasser, und auf den flachen Felsen am Ufer warfen die Birken mit ihren kleinen Blättern gesprenkelte Schatten.
»Deine Worte ehren mich«, hatte Chang höflich erwidert.
Ihr Herz raste. Es war ein Risiko, mit einem jungen Mann hierherzukommen, den sie kaum kannte, und was noch schlimmer war, einem Mann, der Chinese und Kommunist war. Ihre Mutter hätte sie an den Bettpfosten gebunden, wäre es ihr zu Ohren gekommen. Doch damals waren ihre Schicksale, ihres und seines, bereits auf eine Weise miteinander verschlungen gewesen, die sie kaum begreifen konnte. Sie spürte, wie sich spitze Pfeile in das zarte Fleisch ihres Körpers bohrten. Und wie sie am starken Schlag ihres Herzens zerrten. Sogar wenn er ganz still saß, war Chang ebenso elegant wie in Bewegung, eine dunkle Gestalt in einer schwarzen, spitz ausgeschnittenen Tunika und weiter Hose. Mit grässlichen Gummischuhen an den Füßen. Er hatte vor der englischen Schule auf sie gewartet, wo sie ihn sehr förmlich begrüßt hatte, indem sie die Hände zusammenlegte, den Blick senkte und sich verbeugte.
»Ich möchte dir danken. Du hast mich in jener Gasse
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